„Ich bin sehr sentimental“

„4:30“ hat er einem Jungen gewidmet, dessen Augen voller Isolation und Einsamkeit waren. Regisseur Royston Tan über Emotionalität, Träume, Schule und Kultur in seiner Heimat Singapur

INTERVIEW SUSANNE MESSMER

taz: Herr Tan, sind Sie ein Melancholiker?

Royston Tan: Vielleicht. Wahrscheinlich bin ich aber auch einfach nur sehr gefühlsbetont. Sehr sentimental. Ich fühle viele Dinge. Wenn ich glücklich bin, bin ich zehnmal glücklicher als alle anderen. Wenn ich traurig bin, bin ich zehnmal trauriger.

Der Motor, der „4:30“ zum Vibrieren bringt, ist das zarte, manchmal fast erotische Band zwischen dem Jungen und dem koreanischen Untermieter. Wie kommt dieses Band zustande?

Es ist die Einsamkeit, die sie zusammenschweißt. Sie sind beide sehr verlassen. Der Junge hat wirklich niemanden auf der Welt, er hat keine Freunde, keine Eltern, die je zu Hause sind, er versorgt sich vollständig selbst. Und der Untermieter ist sogar zu schwach, richtig Selbstmord zu begehen – sein einziger Versuch scheitert kläglich. Das heißt, dass er für einen Mann aus Korea wirklich sehr schwach ist.

Warum haben Sie sich auch in Ihrem zweiten Spielfilm dafür entschieden, aus der Perspektive eines Jugendlichen zu erzählen?

„4:30“ handelt von einem Elfjährigen, „15“ handelt von fünf Fünfzehnjährigen. Ein Abstand von vier Jahren ist in diesem Alter sehr viel. Ich möchte so viele verschiedene Themen und Menschen erkunden wie möglich. Ich bin wie ein Musiker, ich will mein Publikum bei jedem Auftritt neu überraschen. Mein nächster Film wird von einem alten Mann handeln.

In „15“ schwänzen die Jungs die Schule, in „4:30“ hört man die Lehrer nur reden, sie kommen aber nie ins Bild – etwa so wie die Erwachsenen bei den „Peanuts“.

Ich habe die Schule gehasst. Für mich war es, als ob ich jeden Tag ins Gefängnis müsste. Das ganze Erziehungssystem in Singapur ist ungeheuer anstrengend. Alles dreht sich um Leistung. Jeder sagt dir, dass es deine Zukunft zerstören wird, wenn du nicht in der besten Klasse bist.

Es gibt eine Szene in Ihrem Film, die ich sehr bezeichnend finde für Singapur. Zhang Xiao Wu soll im Unterricht ein Bild vorzeigen. Die Aufgabe lautete, einen Traum zu malen. Er zeigt sein Bild eines schwarzen Lochs und erklärt, dass er niemals träumt. Darauf wird er zum Schularzt geschickt.

In Singapur hat man einfach die Pflicht, Träume und Wünsche zu haben. Viele Kinder werden dazu gezwungen, die Träume ihrer Eltern zu leben.

Alle Ihre Teenager, auch der Elfjährige aus „4:30“, kommen aus zerstörten Familien.

Es entspricht nicht dem Klischee von Singapur, aber es gibt in dieser Stadt tatsächlich sehr viel Armut. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, bot ebenfalls kaum Sicherheit. Wir haben eine Menge Probleme. Es gibt zu wenige soziale Bindungen. Ich habe manchmal das Gefühl, als hätten die Menschen in Singapur Angst, einander anzufassen.

Ihr erster Film und der neue unterscheiden sich vor allem durch die Erzählweise. „15“ ist sehr temporeich inszeniert und wie ein Videoclip geschnitten. „4:30“ geht dagegen konzentriert vor, die Kamera nimmt sich extrem viel Zeit, die Gesichter zu studieren.

Ja, diese Langsamkeit hat mich beinahe umgebracht. Es war eine große Herausforderung. Ich wollte wissen, ob ich auch ohne Spezialeffekte und fast ohne Dialoge eine Geschichte erzählen und Menschen bewegen kann. Ich wollte das Filmische im Film maximieren.

Deshalb sieht man den Figuren auch oft bei nebensächlichen Dingen zu, zum Beispiel beim Rauchen, Urinieren, Bügeln, Kochen und Essen.

Es erzählt sehr viel, wenn man jemanden zeigt, wie er allein isst. Ich wollte die Einsamkeit nicht in Worte fassen, ich wollte sie körperlich nachvollziehbar machen.

Bei dem letzten Film haben Sie Probleme mit der Zensur bekommen, bei diesem nicht. Glauben Sie, dass Sie sich bei „4:30“ mit einer inneren Zensur auseinander setzen mussten?

Ich habe nach „15“ einen Kurzfilm mit dem Titel „Cut“ gemacht, eine Parodie auf die erzwungene Auseinandersetzung mit der Zensur. Ich glaube, damit habe ich dieses Thema komplett durchgearbeitet. Danach konnte ich mit einem neuen Kapitel beginnen.

Wo haben Sie den Hauptdarsteller Xiao Li Yuan gefunden?

Genau dort, wo ich auch die Darsteller von „15“ gefunden habe: bei dem Kunst- und Theaterprojekt, das ich vor einigen Jahren in Singapur mit Leuten im sozialen Wohnungsbau durchgeführt habe. Der Junge hat mich sehr beeindruckt. Da war so etwas in seinen Augen. Ich würde sagen: Da war sehr viel Isolation und Einsamkeit. Ich habe den Film für ihn geschrieben. Es war toll, mit ihm zu drehen. Kinder können nicht schauspielern. Sie müssen absolut durchsichtig sein.

Glauben Sie, dieser Film hätte in einer anderen Stadt als in Singapur spielen können?

Ich glaube, dieser Film ist höchstens sehr asiatisch, und jeder auf der ganzen Welt kann ihn verstehen.

Warum haben Sie sich für die Geschichte eines Jungen mit chinesischer Herkunft entschieden?

Ich fand die Chemie zwischen einem chinesischen Jungen und einem koreanischen Mann sehr interessant. Sie haben ganz unterschiedliche Körpersprachen. Außerdem ist es auch wichtig, dass der Junge eine Mutter hat, die in China auf Geschäftsreise ist und nur ab und zu mal anruft. In Singapur sind es vor allem die Chinesen und die Nachfahren der Chinesen, die für den sozialen Aufstieg stehen und die die Geschäfte machen.

Darf ich fragen, woher Ihre Vorfahren kamen?

Ich sehe aus wie ein Thailänder, oder? Meine Vorfahren kamen jedoch ebenfalls aus China. Wie viele meiner chinesischstämmigen Freunde weiß ich allerdings fast nichts über meine Kultur. Es ist eine Schande.

Das ist doch keine Schande! Es gibt in Singapur eine völlig neue Kultur, oder etwa nicht?

Unsere Kultur besteht darin, keine Kultur zu haben.

„4:30“. Regie: Royston Tan, Singapur/Japan 2006, 93 Min. 19.2., 11 Uhr Zoo Palast 4