Schreckliches Vorbild

Gerd Koenen erklärt famos den Russlandkomplex des deutschen Bürgertums in der ersten Jahrhunderthälfte

VON MICHA BRUMLIK

Was machte die Machtübernahme der Nazis 1933 möglich? Über diese Frage zerstritten sich Historiker schon oft. Mitte der Achtzigerjahre kulminierte die Kontroverse im Historikerstreit, den Ernst Nolte mit seinen Thesen ausgelöst hatte. Für ihn war der industrielle Massenmord an den europäischen Juden eine teils „verständliche“, teils auch gerechtfertige Reaktion – sowohl auf Proteste von Juden gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus als auch auf die Bedrohung durch Stalins Sowjetunion.

Besondere Empörung provozierte Noltes These, dass die Nationalsozialisten Programm und zum Teil auch Technik der Massenvernichtung von den Bolschewiki übernommen hätten, der Holocaust also letztlich eine „asiatische Tat“ war. Sosehr Noltes Thesen bald der Absurdität überführt wurden, so sehr blieb doch ein Motiv seiner Arbeiten im Gespräch: Bolschewismus und Nationalsozialismus seien enger verwandt, als es sogar die Totalitarismustheorien der Fünfzigerjahre behaupteten.

Die Widerlegung der meisten Thesen Noltes war schon über den Nachweis möglich, dass die nationalsozialistischen und völkischen Ideologen die Juden ermorden wollten, schon lange bevor Bolschewiki die Macht eroberten. Diesen Beweis also musste der Publizist Gerd Koenen in seinem neuen Buch „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945“ nicht mehr antreten. Er setzt sich stattdessen mit Noltes oft unbefragt hingenommener Annahme auseinander, dass die Vernichtungsangst vor den Bolschewiki das deutsche Bürgertum geprägt habe.

Dabei gelingt Koenen in seiner ebenso umfassenden wie gelehrten Studie der Nachweis, dass sich tatsächlich eine Art Lerneffekt des völkischen und liberalen deutschen Bürgertums erkennen lässt: freilich weniger aus Angst vor denn aus Faszination über Russland und die Bolschewiki. Diese Faszination zeichnet Koenen nach für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, die unmittelbare Kriegs- und Nachkriegszeit mitsamt den Jahren der Revolution sowie schließlich die NS-Zeit bis zum Überfall auf die Sowjetunion.

Das Motiv für diese Sympathie ist in fast allen Fällen dasselbe – die gefühlte Identität zweier nicht den westlichen Idealen von Aufklärung, parlamentarischer Demokratie und kapitalistischer Wirtschaft verpflichteter Kulturentwürfe. Als Exempel dienen Koenen zwei markante Figuren: der gemeinhin als pazifistisch geltende Journalist Alfons Paquet und der bisher womöglich zu Unrecht übersehene katholische Publizist Eduard Stadler, den Zeitgenossen der Weimarer Zeit spöttisch „Mussolini manqué“ nannten.

Alfons Paquet, der 1918 als Korrespondent deutscher Zeitungen nach Moskau ging, eignet sich besonders als Kronzeuge. Denn er war ein feinfühliger, zerrissener Intellektueller, der trotz seines Ekels über die Politik des roten Terrors und trotz aller Skrupel für eine Umgestaltung Europas durch ein revolutionäres Russland und ein zu revolutionierendes Deutschland eintrat. „Das verhasste Zeitalter der Geschäfte“ so Paquet bei seiner Rückkehr ins besiegte Deutschland „ ist wahrhaftig hingemordet worden, das alte feige Philisterium. (…) Roh und gespenstig bauen sich größte Entwürfe, unsichtbare Türme eines entfesselten idealen Willens in das geräumige Nichts.“

Der antifranzösisch gestimmte Elsässer Eduard Stadler scheint im Gegensatz dazu noch am ehesten als Zeuge für Noltes Angstkomplex zu taugen: 1916 in russische Kriegsgefangenschaft geraten erlernte er Russisch, bewunderte die Bolschewiki und wirkte seit 1918 in der neu eröffneten deutschen Botschaft in Moskau. Im Herbst 1918 nach Deutschland zurückgekehrt wirkte er, ähnlich wie Hitler, als völkischer Redner und wurde zu einem der ersten professionellen „Antibolschewisten“.

Stadler machte aus seiner Bewunderung für Lenin nie einen Hehl und war jedenfalls zunächst alles andere als ein Nationalbolschewist. Gleichwohl: Es gelte, „die weltgeschichtlichen Ideen, welche im bolschewistischen Experiment wirken, ohne die höchst relativen russischen Methoden im deutschnationalen Interesse aufzufangen und zu retten, was zu retten ist“.

Stadler empfand sich als ein antibolschewistischer Führer, propagierte Widerstand gegen Versailles und lobte als einer der Mitbegründer des der „Konservativen Revolution“ nahe stehenden „Juni-Klubs“ 1922 den „Sowjetfaschismus“. Somit wirkte er an der Verbreitung einer Stimmung mit, die es dem Komintern-Emissär Karl Radek 1923 erlaubte, angesichts des Ruhrkampfes sein Werben um die deutschen Nationalisten aufzunehmen. Als Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) betrieb er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Verschmelzung mit der DNVP und lebte später zurückgezogen unter der Aufsicht der Gestapo in Berlin; 1945 kam er im nun sowjetisch geführten Straflager Sachsenhausen ums Leben.

Während offenkundig selbst Stadler aus Bewunderung und nicht aus Angst vor den Bolschewiki zum Antibolschewisten wurde, bietet sich letztlich vor allem Hitlers Chefideologe, Alfred Rosenberg, als Zeuge für die Angstthese Noltes an. Galt doch Rosenbergs Agitation vor allem dem „jüdischen Bolschewismus“. Indes lässt sich zumal seinen frühen Schriften weniger eine Angst vor dem Terror entnehmen als die wirre Idee, dass die Bolschewiki in Wahrheit „Abgesandte der Börsenjuden aller Länder“ seien.

Vom sensiblen Pazifisten Paquet über den Lenin bewundernden Antibolschewisten Eduard Stadler bis hin zum paranoiden Ideologen Alfred Rosenberg wird so jenes Bündel von Motiven und Überzeugungen deutlich, das das Verhältnis der deutschen Rechten zu Russland und zur Sowjetunion prägte.

Koenens „Russland-Komplex“ zeichnet sich über die angeführten Beispiele hinaus aus durch profunde Recherche und aufschlussreiches Bildmaterial; zudem ist das Buch in glänzenden Stil geschrieben. Es beglaubigt keineswegs nur ältere totalitarismustheoretische Vermutungen, sondern belegt weit darüber hinausgehend im Überblick und en détail: Ein großer Teil der bildungsbürgerlichen deutschen Intelligenz dachte schon lange vor dem Nationalsozialismus in entweder utilitaristischen oder sozialdarwinistischen Kategorien der Massenvernichtung. Dabei galt den Bürgern – gleichgültig ob sie rechts oder links standen – die Sowjetunion als Projektionsfläche, die nicht furchterregend, sondern vorbildhaft wirkte.

Gerd Koenen: „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945“. Verlag C. H. Beck, München 2005, 532 Seiten, 29,90 Euro