Das Fasten-Dilemma

Bis Ostern keinen Alkohol trinken? Endlich abnehmen? Aber jetzt fasten doch alle. Sollte man nicht besser fasten, wenn sonst niemand fastet? Eine innerliche Abwägung aus gewichtigem Anlass

VON DAVID DENK

PRO FASTEN: Ich trinke zu viel. Seitdem ich arbeite, findet sich immer eine Gelegenheit, mit dem ein oder anderen Kollegen nach der Arbeit noch zwei, drei, vier Halbe trinken zu gehen. Und auf dem Nachhauseweg treibt mich der Bierhunger in unschöner Regelmäßigkeit an die Currywurst- und Shawarma-Buden dieser auf derlei Bedürfnisse bestens eingestellten Stadt. Weil ich mir aus Sport nicht viel mache, sind die Folgen dieses Lebenswandels absehbar – und vor allem sichtbar: Gut zehn Kilo habe ich innerhalb eines knappen Jahres zugenommen – so viel, dass ich kurz vorm 25. Geburtstag am Scheideweg stehe: Entweder ich werde jetzt so richtig dick, oder ich tu was dagegen!

Auf Dickwerden habe ich keine Lust, auf Sport schon gar nicht – also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als weniger Bier zu trinken und gesünder zu essen. Wie gut, dass die Fastenzeit gerade begonnen hat, sodass mich der Verzicht auf Alkohol nicht in Suchtverdacht bringt, sondern in die gute Gesellschaft gesundheitsbewusster Mitmenschen. Mein Körper wird entschlacken, Körper und Geist werden in ungeahnte Höhen aufbrechen – und mich dabei nie wieder kurzatmig und schweißgebadet im ersten Stock zurücklassen. Von der Güte meiner entschlackten Texte gar nicht zu reden!

Wenn es die Fastenzeit nicht schon gäbe, müsste man sie erfinden, denn sie bietet eine ideale Gelegenheit, Ballast über Bord zu werfen – und zwar nicht nur Körpergewicht. Am Aschermittwoch ist bekanntlich alles vorbei – der richtige Zeitpunkt also für eine persönliche Inventur: Worauf kann ich schwer verzichten und tue es gerade deswegen?

Diese Selbstkasteiung gibt uns das gute Gefühl, alles im Griff zu haben, Herr über unser Leben und unsere Laster zu sein. Diese Erkenntnis – ja, man muss das wohl so kitschig sagen – wärmt über das Fastenbrechen hinaus.

Alles Vermutungen, denn ich habe es ja noch nicht ausprobiert. Doch dass Fasten abseits religiöser Motive zur Mode geworden ist, wird schon seine Gründe haben.

CONTRA FASTEN: Ich trinke zu wenig. Seitdem ich arbeite, findet sich zwar immer eine Gelegenheit, mit dem ein oder anderen Kollegen nach der Arbeit noch zwei, drei, vier Halbe trinken zu gehen, doch dabei bleibt es auch meistens, sodass ich in der Regel vor Mitternacht zu Hause bin und am nächsten Tag ausgeruht wieder zur Arbeit gehen kann. Wie langweilig! Die Kollegen kriegen feuchte Augen, wenn sie mein, wie sie sagen, „zartes Alter“ erfahren – wenn die wüssten …

Mein Leben ist nämlich längst nicht so exzessiv, wie ihres wohl auch erst im Rückblick geworden ist. Jetzt trinken sie am Abend vor Aschermittwoch noch eine gute Flasche Rotwein und fasten dann bis Ostern – ohne mich! So will ich nicht enden! Es ist eine Frage der Selbstachtung. Erstes Gebot: Ich will niemals im Windschatten anderer Feiglinge feige sein. Feiger geht’s nämlich nicht! Mutig hingegen wäre es, genau dann zu fasten, wenn man es selbst für angebracht hält – und nicht, wenn’s alle tun. Deswegen plädiere ich hiermit für mehr Exzess! Wenn schon Alkohol, dann richtig – und statt des Feierabend-drei-Bier-Rituals lieber drei Apfelschorle! Doch sich mit einem Kollegen „auf ein Bier“ zu treffen und dann Apfelschorle zu trinken, dazu gehört Mut – eine Tugend, die den meisten Fastenden abgeht. Um das Stirnrunzeln ihres bierseligen Gegenübers zu vertreiben, genügt ihnen der Hinweis auf die Fastenzeit – ein Totschlagargument. Auch wenn ihre Verzichtsentscheidung nicht religiös motiviert ist, wird sie dadurch sozial unangreifbar und womöglich gar bewundert: Also, ich könnte das ja nicht!

Dass auch der Fastende nach Ostern wohl wieder so weitermachen wird wie vor Aschermittwoch, entlarvt seine Entscheidung als halbherzig und heuchlerisch. Er täuscht sich selbst, indem er behauptet, auch anders, auch ohne zu können. Kann er aber nur, solange der Zeitraum des Verzichts klar begrenzt ist. Psychologisch erfüllt das Fasten also einen zweifelhaften Zweck und medizinisch nach Ansicht von Experten gar keinen – warum also sollte ich mir diesen Krampf antun?