JAN FEDDERSEN über PARALLELWELTEN
: Sacht den Arm bestrichen, zärtlich fast

Der Brunch als Übung in Entschleunigung – eine Erkundung im Soziotop der Stunde, der nagelneuen Mitte nämlich

Der Laden war mir empfohlen worden für den Fall, dass man mal wieder keine Zeit hat, für ein Sonntagsfrühstück einzukaufen.

Er heiße „Weder Noch“, „So und so“, „Entweder Oder“, könnte jedoch auch „Einerseits Andererseits“ lauten. Jedenfalls sei er leicht zu finden, Berlin, Prenzlberg, wie man hier salopp für diese Ecke des Bezirks Pankow sagt, nah der Kastanienallee, wo der Tante-Bine-Laden wiedergeboren ist und nichts als der Geheimtipp ist für den besten Wein der Stadt, den Käse, wo der Backshop noch Bäckerei sich preist und türkischstämmige Menschen nicht wohnen.

Man hat es mit Deutschem, bugsiert gern schamlos fette Kinderwagen über die Trottoirs, und wer sich über das rücksichtslose Geschiebe beschwert, erntet diesen typischen Ursula-von-der-Leyen-moderne-Mutter- Blick: als habe man sich gerade an unserer aller Zukunft vergangen. Und man geht sonntags frühstücken, was hier nicht Frühstück genannt wird, sondern Brunch, um auch temporal die entspannte Mitte zwischen der Frühe des Tages und der Offenheit in den Nachmittag hinein zu plakatieren.

Und so finden wir uns ein und kämpfen uns bis zum Eckchen, wo noch ein Tisch frei ist, und bestellen: „Bitte zwei Kaffee nur!“ Die Bedienung, der Olaf, wie er vom Tresen gerufen wird, guckt spontan glücklich. Weshalb, wird uns später klar. Denn am Nebentisch sitzen zehn Erwachsene, alle nicht jünger als 24 und allesamt noch nicht Mitte dreißig. Viele Stunden später sagt der Olaf, solche Tische seien das Armageddon der Gastronomie. Die eine will das Ei dreieinviertel Minuten, der andere den Toast goldkross, die Wünsche differieren fein – und wollen doch alle beachtet werden.

Kaum ist alles aufgetragen, wird gemosert. Er habe aber das Müsli ohne Sahne bestellt, sie einen Latte, keinen Milchkaffee ..., selbstbewusste Nutzer des modernen Dienstleistungsgewerbes, nur haardünn am Timbre von SklavenhalterInnen vorbeigeordert: „Also, du, das möchte ich sagen, vor zwei Wochen war der Brie duftiger hier.“

Wir bestellten weiteren Kaffee, zündeten einige Zigaretten an, ließen uns, weil in einer Nikotinzone sitzend, auch durch demonstratives Hüsteln nicht irritieren: Schroffes Benehmen können wir auch. Aber wir wollten die Tanja, die Lara, den Bernd, den Olli, den Hendrik und die Tina weiter in den Blick nehmen – alle im Gefühl, nun eine klasse Familie zu sein. Nach zweieinhalb Stunden war das poststudentoide Gelage vorbei. Jeder gewöhnliche Mensch, hat er zu Ende gespeist und will gehen, ginge. Gäbe die Hand, priese die Zeit, die man gemeinsam hatte, und wünschte einen guten Tag.

Nicht so diese Runde. Eine knappe halbe Stunde dauerte es noch, ehe sich wirklich alle aus dem Lokal verflüchtigt hatten. Man stand auf, tat sich zwangslos zu Zweiergrüppchen zusammen, stellte sich so hin, dass es keine machistische Distanz war, aber auch kein Signal, dass es zum Äußersten kommen würde, gab sich nie die Hand, nur manche Männer, man weiß ja nie, was die anderen sonst denken, die allermeisten aber umarmten sich, berührten sich sacht streichend an den Armen, legten dazu die Köpfe leicht zur Seite, intime Motoriken in Zeitlupe: die alternative Art, einander für lange, und sei es nur für einen Tag, Lebwohl zu sagen.

Man hört Sätze wie „Wir müssen telefonieren“, „Du, das kann ich gut verstehen“ oder „Ja, die Vera braucht dich jetzt“, auch „Ich finde, die Wohnung könnt ihr echt kaufen“. Erbteilberater? Man weiß es nicht genau, man muss vermuten, leider.

Im Grunde muss sich eine Art von Plenum versammelt haben – das Leben als ewige Vollversammlung, als Consulting im Gruppenarbeitsformat. Bloß ins Private, ja, Intime verlängert. Prenzlberg? Kann sein. Nach ersten Gesprächen mit Menschen in anderen Vierteln: Der Trend ist stabil – selbst in Neukölln ist der knappe, eilige Handschlag zum Abschied von Stammtischlern ein aussterbendes Signal. Man umarmt sich und hält sich, irgendwie, fest.

So oder so und sowohl als auch, nicht weder noch.

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