Von Muskeln und Männlichkeit

AUS MAGDEBURG HEIKE HAARHOFF

Anne-Kathrin Elbe ist fünf, als die ostdeutschen Sprintikonen Katrin Krabbe und Grit Breuer 1992 vom Sockel stürzen, im Urin Clenbuterol, ein Kälbermastmittel. Als Schuldiger wird der Trainer der Topathletinnen ausgemacht, sein Name: Thomas Springstein. Als Anne-Kathrin Elbe 13 ist, geht in Berlin ein Prozess dem staatlich verordneten Zwangsdoping von minderjährigen Sportlerinnen in der DDR nach. Bei der Frage, wer die gesundheitsschädigende Hormonmast verabreichte, fällt auch dieser Name: Thomas Springstein.

Es ist 2000, dasselbe Jahr, in dem Anne-Kathrin Elbe, geboren in Sachsen- Anhalt, DDR, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, neue Länder, als Nachwuchstalent gesichtet wird und ihre Karriere als Sprinterin beim SC Magdeburg beginnt. Ihr Trainer dort zuletzt heißt Thomas Springstein.

Dieses Jahr ist Anne-Kathrin Elbe 19 geworden. Sie sitzt an einem Tisch im Amtsgericht Magdeburg, in Turnschuhen und mit Pferdeschwanz. Ihr gegenüber die Vorsitzende Richterin Astrid Raue und zwei Schöffen, rechts von ihr die Staatsanwältin Angelika Lux, links von ihr, auf der Anklagebank: Thomas Springstein, 47, gegelter Igelschnitt, zitronengelbes Hemd. Er mustert sie eingehend, sie ignoriert seine Blicke.

Sie ist die Hauptzeugin der Staatsanwaltschaft, sie hat das Dopingverfahren ins Rollen gebracht. „Ich habe nichts gegen Herrn Springstein persönlich“, sagt sie. Klare Stimme, selbstbewusster Blick. Ihr Auftreten ist weniger kindlich als ihr Aussehen. Sie mochte nicht blind schlucken, wozu Springstein sie aufforderte, etwa wenn er sie nach dem Training beiseite nahm und aus seiner Aktentasche Kapseln oder Tabletten holte, Name und Herkunft unbekannt, für sie zumindest. „Er sagte, ich soll Stillschweigen darüber halten, nichts sagen, auch nicht zu meinen Eltern.“

Anne-Kathrin Elbe wird misstrauisch. Auch deswegen, weil sie die Präparate nur außerhalb der Wettkampfphasen bekommt. Aber ihn deswegen zur Rede stellen? Mit – damals – 16 Jahren? „Ich wollte keinen Ärger mit ihm haben.“ Die meisten Pillen habe sie in die Toilette gekippt. Ein Fläschchen jedoch habe sie, eher zufällig, nach der Rückkehr aus einem Trainingslager in Zinnowitz im Jahr 2003 aufbewahrt. Und schließlich, ein Jahr später, ihrem damaligen Bundestrainer beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) über eine befreundete Athletin zukommen lassen. Der DLV ließ die Präparate analysieren. Es waren Dopingsubstanzen. Der DLV erstattete Strafanzeige.

In mindestens drei Fällen, so die Anklage, soll Springstein in den Jahren 2002 und 2003 das muskelbildende Testosteronpräparat Andriol an minderjährige Athletinnen seiner Trainingsgruppe abgegeben haben, darunter an Anne-Kathrin Elbe. Andriol kann die Leistung der Mädchen steigern und daneben psychische Veränderungen, Vermännlichung, Leberschäden, eine tiefe Stimme und Herz-Kreislauf-Störungen verursachen sowie die Funktion der Eierstöcke beeinträchtigen. Außerdem soll Springstein einer der Jugendlichen homöopathische Spritzen gesetzt haben, ohne dass er dazu als Arzt oder Heilpraktiker befugt gewesen wäre.

Bei einer Hausdurchsuchung im Herbst 2004 in Springsteins Wohnung finden Ermittlungsbeamte anabole Steroide, Insulinpräparate und Wachstumshormone sowie Listen mit Vergabezyklen von Dopingmitteln. Der E-Mail-Verkehr auf seinem Computer dokumentiert, dass er sich regelmäßig mit Dopingkennern über die Wirkung von Substanzen auf den weiblichen Organismus austauschte, über ihre Dosierung und die rechtzeitige Absetzung, damit die Sportlerinnen bis zur Kontrolle wieder „sauber“ waren. Wenn es schlecht läuft, drohen Thomas Springstein bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Doch danach sieht es nicht aus. Thomas Springstein hat sich eine Verteidigung gekauft, die jeder in diesem Land, dessen Fall aussichtslos scheint, sich nur wünschen kann: Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR und immer gut, wenn es darum geht, einen Ost-West-Konflikt zu stilisieren, in dem selbstredend der Ostler das Opfer ist („Die wichtigste Sprintergruppe Ostdeutschlands ist aufgeflogen!“, „Man könnte es Komplott nennen!“), und sein Hamburger Kollege Johann Schwenn, einer der renommiertesten Anwälte der Republik.

Schwenn hat dem DDR-Spionagechef Markus Wolf aus der Patsche geholfen, er war der Rechtsvertreter der Entführungsopfer Oetker und Reemtsma, er verteidigte den Hamburger Partykönig Michael Ammer und vorübergehend auch Steffi Grafs Vater. Er ist zugegen, wenn Fälle medienträchtig oder lukrativ sind; seine Freude am Duell überwiegt sozialen Anspruch und Ideologie.

Zwei Monate läuft der Prozess nun schon, ohne dass das Gericht sehr viel mehr Informationen zu den Tatvorwürfen zutage gefördert hätte als die Aussage von Anne-Kathrin Elbe. Am ersten Verhandlungstag lassen Springstein, Diestel und Schwenn das Gericht 20 Minuten lang warten, um sich sodann über die widrigen Verkehrsverhältnisse auszulassen. Die Richterin nimmt es lächelnd hin. Sie lässt zu, dass Schwenn ihr das Wort entreißt, sie mit einem stöhnenden „So geht das nicht, Frau Vorsitzende!“ unterbricht, sie und die Staatsanwältin wie Schulmädchen behandelt und mit hanseatischem Akzent belehrt, die Strafprozessordnung gelte „übrigens auch im Osten“.

Schwenn erspäht den einzigen Schwachpunkt in Anne-Kathrin Elbes Aussage und stürzt sich so lange darauf, bis selbst Zuschauer, die eben noch Elbes Aussage mit vor Empörung offenen Mündern lauschten, sich fragen, wie glaubwürdig diese Zeugin eigentlich ist.

Tatsächlich bleiben Fragen offen. Weshalb ging sie nicht selbst zur Polizei und erstattete Strafanzeige, sondern überließ dies dem DLV? Warum bewahrte sie die Tabletten erst ein Jahr lang auf und gab sie dann nicht direkt ihrem Bundestrainer, sondern über eine dritte Person? Hat sie sich, wie Diestel suggeriert, instrumentalisieren lassen vom DLV, dem der erfolgreiche Springstein ein Dorn im Auge war?

Verzögern, verunsichern. In den bislang sechs Verhandlungstagen sind Diestel und Schwenn ihrem Ziel recht nahe gekommen. Zweimal haben sie das Gericht für befangen erklärt, zweimal waren sie damit erfolglos. Doch der Fahrplan ist gehörig durcheinander geraten. Zentrale Zeugen wie Elbes ehemaliger Bundestrainer, der Sachverständige für Dopingpräparate oder die Athletin Eileen Müller, der Springstein homöopathische Medikamente gespritzt haben soll, wurden mehrfach ein- und umgeladen, gehört werden konnten sie nicht.

Je länger dieser Zustand andauert, desto mehr gerät der eigentliche Skandal, das Doping minderjähriger Mädchen mit männlichen Sexualhormonen, in den Hintergrund.

Thomas Springstein, der sich zu den Vorwürfen nicht äußert, wirkt von Mal zu Mal entspannter. Mitunter nimmt er in Pausen breitbeinig im Zuschauerraum Platz und plauscht mit Diestels Ehefrau, die in Magdeburg keinen Termin verpasst.

Diese Entwicklung ist nicht den Verteidigern anzukreiden. Ihre Bühne ist das Verfahren, ihre Waffe das geschliffene Wort und die Strafprozessordnung, und die nutzen sie weidlich. Es dauert auch deswegen so lange, weil die Richterin und die Staatsanwältin den nötigen rhetorischen Biss und die inhaltliche Schnelligkeit vermissen lassen, Schwenns anstrengende Gedankengänge zu parieren.

Es ist an einem Prozesstag, an dem der Rechtsanwalt die Staatsanwältin besonders provoziert. Da landet Angelika Lux, 42, lange blonde Haare, Typ beste Freundin, einen vermeintlichen Coup. „Zum Schutz der Zeugin Anne-Kathrin Elbe“ beantragt sie, dass Springsteins E-Mail-Verkehr aus den Prozessakten in Auszügen verlesen wird. Schwenn protestiert wortgewaltig, doch erfolglos. Die Richterin liest, nuschelnd und unter Vermeidung jeglicher Intonation. Es geht, so viel wird immerhin klar, um Beschaffung und Dosierung von Dopingmitteln. Der Eindruck, der bleibt, ist: Springstein muss ein gerissener, mieser Kerl sein.

Wenige Tage später sind die E-Mails in der FAZ beinahe im Wortlaut nachzulesen. Und: Eine der genannten Substanzen legt den Verdacht nahe, Springstein kenne sich nicht nur mit gewöhnlichem Doping, sondern auch mit dem hochgefährlichen Gendoping bestens aus.

Schwenn und Diestel sprechen von einer „Medienhatz“, zu der die Staatsanwältin geblasen habe. Lux, ätzt Schwenn, sei „hinter die Strafverfolgungsmethoden des Mittelalters zurückgefallen“, denn sie müsse der FAZ das Material zur Verfügung gestellt haben. Anders sei der fast wortgetreue Abdruck nicht zu erklären.

In der Tat konnte, wer an dem fraglichen Tag im Gericht gesessen hatte, ob des fulminanten Gehörs des Kollegen neidisch werden.

Lux widerspricht – bis sie selbst als Zeugin vernommen wird: Da gibt sie zu, die E-Mails tatsächlich zwei Journalisten am Telefon vorgelesen zu haben. Schwenn feixt.

Die Parteien haben inzwischen signalisiert, dass sie – auch um die verfahrene Situation zu beenden – sich dieser Tage hinter den Kulissen einigen könnten: Legt Springstein doch ein Geständnis ab, garantiert ihm das Gericht ein milderes Strafmaß.