Der Grauschleier des Pop

Die Echo-Verleihung im Estrel Convention Center war ein Glamourvernichter, der Dresscode erinnerte an C & A, und zu Beginn wurde mit der Auszeichnung für Christina Stürmer als erfolgreichste nationale Künstlerin der Anschluss Österreichs vollzogen

Eine fortschreitende Neuköllnisierung erfasste die ganze Echo-Gesellschaft

von CHRISTIANE RÖSINGER

Von einem traurigen Abend in Neukölln ist zu berichten. Schon am frühen Nachmittag hatten sich im Gewerbegebiet in der hinteren Sonnenallee, nahe einem Schrottplatz, unschöne Szenen auf den verschneiten Straßen abgespielt. Die Berliner Polizei musste eingreifen, dunkle, gewaltbereite Gestalten mit Ohrknöpfen versperrten den Weg zu einem tristen Gebäude am Rande der Stadt, frierende Kinder drückten sich unter Betonpfeilern herum und schrien immer wieder verzweifelt: TOKIO HOTEL !! Im Estrel Convention Center fand die 15. Echo-Verleihung statt.

Schon letztes Jahr war man vom Charlottenburger ICC ins kleinere Estrel Convention Center gezogen, dieses Jahr waren die Pressevertreter aus Platzgründen nicht einmal im Saal zugelassen, sie mussten in einem als „Pressezentrum“ ausgewiesenen Raum auf einer Leinwand die Show verfolgen. Allen anderen Kollegen wurde wenigstens ein rotes Bändchen für die After-Show-Party angelegt. Nur der taz nicht – wohl als erzieherische Maßnahme, weil sie in den letzten Jahren nicht im Sinne der Echo-Pressestelle berichtet hatte. Wie viele Demütigungen hält denn das Leben noch für uns bereit!

Nun denn, es blieben der rote Teppich und die Übertragung in Echtzeit. Im zugigen Flur eines Hotelnebengebäudes hatten sich einige Fotografen aufgebaut, lange passierte nichts, bis Glamourgirl Frauke Ludewig erschien und sich ausgiebig fotografieren ließ, um dann ihrerseits Position als Berichterstatterin vom Rande des Teppichs einzunehmen.

Dieser besagte Teppich erwies sich im Folgenden als reiner Glanz- und Lichtschlucker, als Glamourvernichter schlechthin. Menschen, die sonst ganz passabel, ja richtig hübsch aussehen, machten in diesem Ambiente eine traurige, würdelose Figur. Lag es an der ganzen unglamourösen Ausstrahlung der Veranstaltung? Oder nur an der hässlichen Deckenverkleidung, den Lüftungsschächten und anderen baulichen Unschönheiten, die sich in den Blick stellten?

Die Roben der Stars wirkten, als hätte man sie eilig aus der Faschingsabteilung bei C & A besorgt. Wer sich sexy gestylt hatte, sah billig aus, eine fortschreitende Neuköllnisierung erfasste die ganze Echo-Gesellschaft. Selbst die sonst so agilen Prinzen blickten fahl und alt aus der Wäsche, Tic Tac Toe wirkten gar wie traurige Sexarbeiterinnen aus Osteuropa.

Dabei waren doch alle da! Alle GZSZ- und DSDS-Stars! RTL-„exclusiv“- und Ex-Viva-Moderatorinnen, Ralph Siegel und Bernhard Brink! Auch die Nominierten – Seeed, Juli, Silbermond, Fettes Brot und die Kastelruther Spatzen – liefen ein, die unvermeidliche Judith Holofernes schürzte auf unnachahmliche Art ihre Lippen fürs Foto, wirkte aber auch nicht ganz so konsumkritisch frisch wie sonst. Oomph! hatten sich rote „Zensiert!“-Bänder übers T-Shirt geklebt und streckten die Zunge raus, wurde ihr Auftritt doch abgesagt, weil man in unseren unruhigen Zeiten nicht Gefahr laufen wollte, durch den Oomph! -Titel „Gott ist ein Popstar“ irgendwelche religiösen Gefühle zu verletzen.

Dann endlich die Zeremonie im Saal: Gleich zu Beginn vollzog die deutsche Phonoakademie den Anschluss Österreichs und zeichnete Christina Stürmer als erfolgreichste nationale Künstlerin in der Kategorie Rock und Pop aus. Tokio-Hotel-Sänger Bill, durch die neue Frisur vollends zur Mangafigur geworden, nahm den Preis als „Newcomer des Jahres“ entgegen, Xavier Naidoo wurde bester nationaler Künstler, Wir sind Helden beste Band, Fettes Brot beste Hip Hopper.

Da keiner der internationalen Stars sich zum weltweit zweitwichtigsten Musikpreis bequemt hatte, schickten die Echo-Gewinner Robbie Williams, Coldplay, Madonna, James Blunt, System of a Down, Michel Bublé und 50 Cent Grußbotschaften aus der Ferne. Mel C. und Shakira mussten für internationales Flair sorgen, und Shakiras Auftritt war dann der einzige Höhepunkt des Abends, ließ Stimmung und Glanz aufkommen, soweit sich dies bei einer Übertragung auf Großleinwand beurteilen lässt.

Am schlimmsten bei diesem Echo waren aber gar nicht die nominierten Künstler; viel schlimmer waren die Laudatoren. Es ist ja erbärmlich genug, wenn Schauspieler singen, sich an Bands anbiedern und umgekehrt. Als Laudatoren wollen sie dann gerne ihre Rockaffinität und Jugendlichkeit beweisen. So machte sich Uwe Ochsenknecht vollends zum alten Sack, als er greinend den Preis „für den Künstler, der im letzten Jahr am besten gerockt und gepoppt“ hat, ankündigte .

Jan Josef Liefers hat ja leider die Sturmflut auf RTL überlebt und konnte entsprechend eine lange, dumme und enorm pointenlose Geschichte erzählen. Und so wurde im Laufe des Abends immer wieder nicht nur das Auge, das musikalische Empfinden, sondern auch das Sprachgefühl beleidigt.

Es kann sein, dass die anschließende After-Show-Party diesen traurigen Eindruck wieder wettgemacht hätte, dass man sich auf diesem glamourösen, gut gelaunten Fest prächtig amüsiert hätte, dass der Echo dort erst seinen ganzen Zauber versprüht hätte, man weiß es nicht.