Auf dem Schlauch

Der Künstler Santiago Sierra hat eine ehemalige Synagoge in der rheinischen Provinz mit giftigen Abgasen vorübergehend in eine Gaskammer verwandelt – ist das eine „Beleidigung der Opfer“?

aus KÖLN MICHAEL AUST

Eine alltägliche Szene: Sechs Autos parken auf dem Randstreifen der Hauptstraße von Pulheim-Stommeln, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Köln. Das Besondere: Ihre Motoren rattern, und aus den Auspuffen gehen lange Schläuche ab. Die Abgase der parkenden Autos werden direkt in ein großes Backsteinhaus geleitet, das an der Hauptstraße steht, direkt hinter dem Haus Nummer 86. Das Pikante: Es ist die ehemalige Synagoge von Stommeln, und die Aktion ist Kunst und heißt „245 Kubikmeter“.

Mit Abgasen hatten die Nazis die Euthanasie bewerkstelligt. Der spanische Künstler Santiago Sierra will, indem er tödliche Abgase in einen ehemaligen jüdischen Gebetsraum leitet, auf die „Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust aufmerksam machen“, heißt es in einer Ankündigung. Und zumindest eines hat der Künstler erreicht: Aufmerksamkeit. Die ersten Besucher, die den mit tödlichen Kohlenmonoxid verpesteten Raum am letzten Sonntag mit Gasmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmanns besichtigten, waren zum Teil schockiert, teilweise auch tief bewegt – kalt ließ die Installation keinen, der sie gesehen hat.

Doch mit dem Sehen ist es erst mal vorbei: Ursprünglich sollte die Installation jeden Sonntag von 14 bis 17 Uhr zu begehen sein, für nächsten Sonntag rechnete man mit einem enormen Andrang von Besuchern und Pressevertretern. Doch schon am Montag dieser Woche ruderten die Verantwortlichen zurück. Die Ausstellung wurde gestoppt, zunächst nur für eine Woche.

„Wir wollen Zeit gewinnen, um Gespräche führen zu können“, sagte ein Sprecher der Stadt Pulheim. Der Künstler Sierra wolle anreisen und die Pause nutzen, um mit der Jüdischen Gemeinde Köln und Kritikern wie Ralph Giordano zu sprechen: „Sierra geht davon aus, dass er die Kritiker von seinem Projekt überzeugen kann.“

Als am Montag die ersten Artikel erschienen, als Fernsehen, Radio und Online-Magazine über die ansonsten recht nachrichtenarme Gemeinde im Rhein-Erfft-Kreis berichtete, hagelte es Kritik – vor allem vonseiten der jüdischen Gemeinden. Es sei eine „Beleidigung der Opfer“, tödliches Gas in einen ehemaligen jüdischen Gebetraum zu leiten, sagte Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Das fiktive und geschmacklose Kunstspektakel verletzt nicht nur die Würde der Opfer des Holocausts, sondern auch die der jüdischen Gemeinschaft.“ Auch der notorische Ralph Giordano tat seine Entrüstung kund: „Den Ermordeten und den Überlebenden des Holocaust bleibt in Deutschland nichts, aber auch nichts erspart.“ Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Jüdischen Kultusgemeinde in München, sah in der Aktion eine „niveaulose Provokation“ der Opfer.

Und selbst die nordrhein-westfälische Landesregierung meldete sich zu Wort: „Die Kunst ist frei. Aber Sierra muss sich fragen lassen, ob er, statt gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust zu arbeiten, nicht Opfer des Holocaust verletzt und den Holocaust banalisiert“, sagte Regierungssprecher Thomas Kemper.

Vor allem letztere Kritik dürfte die Stadtverwaltung von Pulheim, den Veranstalter der Aktion, dazu bewogen haben, die Ausstellung zu stoppen. Hat doch Landesvater Jürgen Rüttgers (CDU) seinen Hauptwohnsitz in der Gemeinde. Auch wenn nach Angaben der Kulturabteilung der Stadt noch nicht entschieden ist, ob die Ausstellung nur ausgesetzt oder gar abgesetzt ist, hat sie schon etwas geschafft, was Kunst im günstigsten Falle erreichen kann: Sie hat eine Debatte angeregt.

„Die Kunstaktion ist jetzt in der Welt“, sagte Kulturamtsleiterin Angelika Schallenberg zur taz. „Alles, was sie bewirken kann, hat sie bewirkt. Es ist fraglich, ob es da noch einer Wiederholung bedarf.“

Eine alltägliche Szene: Die Beschäftigung mit dem Holocaust, in pflichtgemäßen Schulstunden, effekthascherischen Fernsehdokumentationen, langweiligen Podiumsdiskussionen. Man mag zu dem Konzept zum Skandal von Stommeln stehen, wie man will, man muss Position beziehen.

Die Aktion sei „ein mutiger Entwurf, einem hoffnungslos übersättigten Publikum das Hässliche, das Böse, das Grauen der Schoah ästhetisch nahe zu bringen“, sagte Günter Menne, der Sprecher der Evangelischen Kirche in Köln – und dürfte damit zu den wenigen Menschen gehören, die verstehen, worum es dem Konzeptkünstler wirklich geht: einen Ort unbegehbar zu machen, weil er „vorübergehend an den Tod vermietet“ worden ist, wie Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau schrieb. Ästhetisch und leicht konsumierbar muss eine solche Kunst allerdings nicht sein. Dafür gibt es ja immer noch Guido Knopp.