Wir sind hier nicht in Seattle, Slim

Neues von der Plattenfirma hinter der Sleater-Kinney Road: Ein Besuch bei Kill Rock Stars, dem Label aus Olympia, Washington, das vor 15 Jahren die ersten Riot-Grrl-Platten herausbrachte und nie aufgehört hat, Musik mit Haltung zu veröffentlichen

„Olympia ist der aufgeschlossene, liberale Ort, der Seattle gern wäre“, sagt Slim Moon, 38, Begründer von Kill Rock Stars

VON THOMAS WINKLER

Wer auf der Interstate Nummer 5 vom Norden her kommend auf schnellstem Wege den Staat Washington durchmisst, an dem fliegt bei 60 Meilen pro Stunde ein ansehnlicher Teil der Geschichte der populären Musik vorbei. Zuerst erreicht man Seattle, die Stadt des Grunge, kann dort von der Stadtautobahn aus direkt unter der Space Needle vielleicht sogar das Experience Music Project, das größte Rock-’n’-Roll-Museum der Welt, erblicken und könnte kurz darauf links abbiegen, um die letzte Ruhestätte von Jimi Hendrix im Vorort Renton zu besuchen. Aber noch einmal eine gute Stunde gen Süden muss fahren, bis hinein nach Olympia, wer sehen will, wie sich die Musikgeschichte endlich doch noch niederschlägt in der offiziellen Straßenbeschilderung.

Weiß auf Grün steht dann zu lesen: „Sleater-Kinney Road“. Allerdings: Die Autobahnausfahrt No. 107 ist nicht benannt nach der gleichnamigen Band, sondern die Band nach der schier endlosen Straße, an der das Trio dereinst einen seiner ersten Übungsräume fand. Aber schön ist es doch: Nur zwei Ausfahrten später muss die I-5 verlassen, wer Kill Rock Stars, der langjährigen Plattenfirma von Sleater-Kinney, einen Besuch abstatten will. Das Indie-Label aus Olympia hat nicht nur die wichtigsten Werke des Frauentrios aus dem noch einmal 120 Meilen südlicher gelegenen Portland, Oregon, herausgebracht, sondern noch einige andere wegweisende Schallplatten von Bands wie Bikini Kill, Unwound oder Huggy Bear. Und feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag.

Oder besser: Feiert ihn nicht. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Denn hat man die ominöse Ausfahrt genommen, sich durchs Lager im Erdgeschoss gefragt und ist doch noch im ersten Stock des Fabrikgebäudes angelangt, in dem Kill Rock Stars residieren, stellt Slim Moon leicht überrascht und eher amüsiert fest, dass er, Label-Chef und durchaus legendäre Figur, genau im Februar 1991 die erste Single seines Labels herausgebracht hat. Zufällig genau anderthalb Jahrzehnte später erscheint nun in Europa das neue Album von The Gossip.

Zwar ist „Standing In The Way Of Control“ (Lado/Rough Trade) in den USA bereits einige Wochen alt und kommt hierzulande unter der Ägide des Hamburger Labels Lado heraus, aber kaum eine andere Veröffentlichung des aktuellen Label-Katalogs hätte wohl so exakt die Arbeit von Kill Rock Stars auf den Punkt bringen können. The Gossip haben Popappeal und schrecken doch nicht vor Kunst zurück, sind aufdringlich und einfühlsam, laut und leise, sperrig und eingängig. Sie sind politisch korrekt und finden Feminismus selbstverständlich, sind ein Trio aus zwei Frauen und einem Mann. Sie wissen, dass es Punk gab, haben schon mal von der New Wave gehört, malträtieren Gitarren und hassen ganz ausdrücklich Rockerposen, lassen sich ihr Cover von Sonic-Youth-Bassistin Kim Gordon gestalten und einen Remix von Le Tigre mischen. Sie sind also, kurz gesagt, eine Rockband, die modern genug ist, um Postmoderne buchstabieren zu können und sich auch noch einen Scheißdreck darum zu scheren.

Dass mehr als eine solche Platte, eine solch gute Platte nicht nötig ist, das Jubiläum seiner Firma zu feiern, dass Kill Rock Stars gern verzichten auf Feuerwerk und auf die branchenüblichen Festivals, das wird einem schnell klar, wenn man dem Verantwortlichen gegenüber sitzt. Slim Moon ist 38 Jahre alt, hüllt seinen eher massigen Leib in ein schlabberiges T-Shirt, das seine Unfarbe vermutlich nach zu vielen Durchläufen in einer WG-Waschmaschine angenommen hat, trägt Ohrring und eine Frisur, die vom Kopfkissen der letzten Nacht geformt wurde, und im Ganzen ein Äußeres, das vor allem darauf hindeutet, dass es systematisch vernachlässigt wird. Zwölf Menschen arbeiten mittlerweile für den College-Dropout ohne High-School-Abschluss, der sich selbst ein „Problem mit Autoritäten“ bescheinigt, aber von seinen Angestellten sondert sich der Chef nur ab durch ein quer gestelltes Regal.

Noch heute, nach mehr als 300 Veröffentlichungen und trotz mehr als zwei Millionen verkaufter Platten, verkündet Moon, dass der Profit mitnichten der Hauptgrund der Existenz seines Labels sei. „Ich hätte das Talent und das Knowhow kommerziell so erfolgreich zu sein, wie andere Labels das sind“, sagt Moon, „aber das war nie mein Anspruch.“ Vielmehr sehe man sich verpflichtet, „Schallplatten von hoher Qualität und Bedeutung“ herauszubringen und dabei „die Künstler fair und respektvoll zu behandeln“.

Tatsächlich gründete Moon sein Label in der Aufbruchzeit des amerikanischen Nordwestens: Grunge explodierte gerade, wurde zum weltweiten Phänomen, aber in Olympia, der kleinen, leicht spinnerten Schwester von Seattle, hatte man eh immer schon das Gefühl den besseren Musikgeschmack zu haben. Moon musste es wissen, denn er kam aus Seattle, als er mit 18 Jahren ins beschauliche Universitätsstädtchen zog. „In Seattle hielt man uns in Olympia immer für kindische Weicheier, machte Witze über uns, wir könnten unsere Instrumente nicht spielen“, erzählt er kichernd: „Für uns bestand die Idee Rock aber aus mehr als Blues-Rock-Riffs und Flanellhemden.“ Der Label-Name war also Programm und auch ein Seitenhieb gen Norden, wo stets Bier und Schweiß in Strömen flossen.

Auch wenn Nirvana, bevor sie berühmt wurden, in Olympia lebten: Hier fanden und finden Konzerte nicht in rauchgeschwängerten Bars statt, sondern eher in Galerien, Buchläden und Privatwohnungen. „Olympia ist der aufgeschlossene, liberale Ort, der Seattle gern wäre“, sagt Moon. Beim Bummel durchs Städtchen stößt man auf einen Birkenstock-Laden, einige Meilen Fahrradwege und Plattenläden, in denen mehrere Fächer reserviert sind für im Selbstverlag herausgebrachte CDs lokaler Bands, die ihre Papphüllen in liebevoller Heimarbeit noch selbst bemalen.

Ursprünglich sollte Kill Rock Stars denn auch ausschließlich Spoken-Word-Singles herausbringen. Die abstruse Idee firmierte unter dem Schlagwort „WordCore“ und hielt immerhin 10 Veröffentlichungen an. Zur Premiere vor 15 Jahren trug der Chef selbst seine Gedichte vor – zusammen mit einer gewissen Kathleen Hanna. Deren Band Bikini Kill und ihr ruppiger Postpunk mit feministischen Inhalten wurde bald zum ersten Aushängeschild des Labels und legte den Grundstein für die Riot Grrrls. Und von Olympia aus, der, so Moon, zeitweiligen „Lesbenhauptstadt der Welt“, trug Kill Rock Stars mit Platten von Sleater-Kinney, Huggy Bear, Heavens To Betsy oder Team Dresch die Musik zur Bewegung hinaus in die Welt. „Ich kann kein Feminist sein, ich bin keine Frau“, sagt Moon, „aber das Thema war mir immer wichtig.“ So wichtig, dass er das Sublabel 5 Rue Christine, 1997 eröffnet, um „experimentellere, innovativere Sachen“ herauszubringen, nach der letzten Pariser Adresse seiner Lieblingsschriftstellerin Gertrude Stein benannte.

Sleater-Kinney aber haben ihr letztes Album „The Woods“ ausgerechnet bei den Grunge-Erfindern SubPop veröffentlicht, Kathleen Hanna scheint mit ihrer aktuellen Band Le Tigre die Radikalität verloren gegangen zu sein, und auch Kill Rock Stars hat sich von den ideologisch geprägten Anfängen emanzipiert. Kommerziell am erfolgreichsten sind mittlerweile ausgerechnet die für den Labelsound eher atypischen Decemberists mit ihren melancholischen Miniaturen und der verstorbene Sänger und Songwriter Elliott Smith.

Aber auch wenn Moon selbst findet, das Spektrum seines Labels sei bisweilen zu weit gefächert, noch immer steht Kill Rock Stars für einen sperrigen, unbequemen Sound und politische Inhalte, für die Verknüpfung von Rockmusik mit Kunst, Literatur und Film – vor allem auf 5 Rue Christine. Dort ist Platz für die schwerelosen, scheinbar strukturlosen Instrumentals der No-Neck Blues Band oder den bisweilen arg anstrengenden Kunstanspruch eines Ensembles wie Wooden Wand & the Vanishing Voice, die zwar den Begriff „Improvisation für redundant halten“, trotzdem aber eine Art hoch qualifizierten Katzenjammer veranstalten.

Es gilt also weiterhin, was sich Moon vor genau 15 Jahren vorgenommen hat, als er Kill Rock Stars ins Leben rief. „Es gibt und gab schon damals so viele Plattenfirmen“, erinnert er sich: „Ich wollte etwas Neues machen, etwas Einzigartiges.“ Seine kleine, feine Plattenfirma hat es zumindest schon mal geschafft, dass eine Autobahnausfahrt an die lokale Popgeschichte gemahnt und schon lange nicht mehr an die beiden Familien früher Siedler, nach denen die Sleater-Kinney Road ursprünglich benannt wurde.