Warum wir immer noch Orgasmen vorspielen

„Die Scham ist vorbei“, lautete ein feministisches Credo der Siebziger. Alle sexuellen Tabus sind längst geschleift. Doch der Druck wird eher höher, ergeben Protokolle des Sexuallebens von Frauen, die Claudia Haarmann aufgezeichnet hat. Ein unzeitgemäßes Buch über neue Tabus im Zeitalter ultimativer Freiheit

Wie geht man mit sich um, wenn die Lust trotz aller Sextipps for Girls nicht kommt? Wenn der Partner leider nicht so verständnisvoll ist, wie ihn der Ratgeber gerne hätte? Heute schämt man sich vor allem dafür, dass man sich noch schämt – weil die Scham doch vorbei sein soll

VON HEIDE OESTREICH

Die Scham ist längst vorbei. Gerade preist eine weitere Frauenzeitschrift „die zehn besten Sex-Ratgeber für Frauen“. Den einschlägigen Fernsehsendungen sind die Themen schon ausgegangen, so oft haben sie über alle möglichen Perversionen berichtet, die man sich nur ausdenken kann. Die großen deutschen Sexualforscher finden, Sex sei entdramatisiert, die Verhandlungsmoral habe Einzug gehalten, mit dem „Verschwinden der Sexualmoral“ (Gunter Schmidt) seien auch die existenziellen Probleme, die man mit der unterdrückten Sexualität verband, untergegangen. „Untenrum – Die Scham ist nicht vorbei“, heißt ein Buch von Claudia Haarmann, und damit platziert die Therapeutin und Journalistin eine unzeitgemäße These sperrig in den ach so aufgeklärten Raum.

Dass die verlautbarte Sexualität einen normierenden Charakter hat, dem sich der Einzelne mit seinem Erleben unterwirft, ist eine Erkenntnis, die fast so alt ist wie die sexuelle Revolution. Michel Foucault hat den modernen Geständniszwang, der den „König Sex“ erst auf den Thron hob, schon 1976 dekonstruiert. Bezog sich das damals auf ein geradezu zwanghaftes Reden über Sex, das seine Befreiung beschwor, so versucht Haarmann nun zu belegen, dass auch die verlautbarte Banalisierung der Sexualität einen normierenden Charakter hat. Heute hat man einfach kein sexuelles Problem mehr zu haben. Man akzeptiert gefälligst seine Vorlieben, lebt sie irgendwo aus, findet im Internet Gleichgesinnte und zur Not einen Therapeuten. Mit ein paar Sextipps bringt man seine Beziehung auf Vordermann oder -frau. Fertig.

Haarmann sammelt Protokolle des weiblichen Erlebens von Sexualität und Beziehungen, Interviews mit Sexualtherapeutinnen und Informationen, die irgendwie im großen Gerede über Sexualität untergegangen sind. Es ist eine Art Fortsetzung von Eve Enslers Vagina-Monologen mit anderen Mitteln. Und bewirkt ein ähnliches Unbehagen: Müssen Frauen immer noch so sehr über sich selbst und ihre Körper sprechen? Hat die öffentliche Selbstfindung denn gar kein Ende?

Nach der Lektüre muss man zugeben, dass man mit dieser Haltung eben genau in dem Mainstream-Gerede vom unproblematischen Sex stecken bleibt, der alles, was nach Selbsterfahrung und Selbstproblematisierung klingt, für gestrig und zurückgeblieben hält. Denn nicht nur die Generation, die in den repressiven Fünfzigern aufwuchs, berichtet hier von quälend langsamer Annäherung an das eigene „Untenrum“ und dessen Bedürfnisse, sondern auch jüngere Frauen, die angeblich so abgeklärte Generation. Gerade hier eröffnet sich ein weit gefächertes Erlebnisfeld: Einerseits junge Damen, die selbstbewusst die eigenen Schamgrenzen wahren gegen die Übergriffe, die der Trend zum Geschlechtsverkehr mit 14 bedeuten kann. Die sich Zeit zum Probieren lassen und genug Mut zum Neinsagen besitzen. Andererseits kämpfen doch erstaunlich viele junge und mittelalte Frauen mit dem uralten Muster: Orgasmus und Lustbereitschaft vorspielen, damit der Kerl nicht wegläuft. Die 80 Prozent der Frauen, die ihrem Partner gelegentlich einen Höhepunkt vorspielen, sind nicht verschwunden, nur weil Meg Ryan diese Inszenierung schon 1989 in dem Kinofilm „Harry und Sally“ in einem Restaurant nachspielte.

In der Tat müsste einen auch nachdenklich stimmen, warum etwa der volle Umfang der Klitoris erst 1998 entdeckt wurde: ein etwa neun Zentimeter großer Schwellkörper, der sich um Vagina und Harnröhre legt und nur zum geringsten Teil sichtbar ist, wie in einem sehenswerten Arte-Themenabend aus dem Januar 2004 berichtet wurde. Spätestens diese Entdeckung machte die jahrzehntelang erbittert geführte Debatte um Vaginal- oder Klitoralorgasmus hinfällig. Und doch ist sie so wenig propagiert worden, dass heute noch zahllose Autorinnen mühselig erklären müssen, dass ihre Orgasmen komischerweise nicht in dieses binäre Schema passen.

Haarmanns Protokolle zeigen die riesige Diskrepanz zwischen dem, was veröffentlicht wird und dem, was einzelne Frauen erleben: Wie geht man mit sich um, wenn die Lust trotz aller Sextipps for Girls nicht kommt? Wenn der Partner leider nicht so verständnisvoll ist, wie ihn der Ratgeber gerne hätte? Wie schafft man es, trotz 137 Handlungsmaximen im Kopf wieder entspannt Sex zu haben? Und was ist, wenn man keine Patentlösung findet, sondern mit sich und seinen Hemmungen einfach leben lernen muss? Denn, das findet Haarmann in allen Geschichten wieder: Heute schämt man sich vor allem dafür, dass man sich noch schämt – weil die Scham doch vorbei sein soll. Dafür, dass man es nicht geschafft hat, uralte mütterliche Lehrsätze wie „Der Mann will nur das eine“ oder „Du musst ihn ab und zu ranlassen, damit er zufrieden ist“ auszulöschen, sondern mehr oder weniger bewusst immer noch mit ihnen lebt. Bei jungen Frauen hat Sex als Bindungsmittel Hochkonjunktur.

Es ist nicht nur das verschrobene Erbe der sexuellen Revolution, das hier junge Frauen unter Druck setzt. Es ist auch die Abwehr der Töchter und Enkelinnen gegen einen Feminismus, der die totale Abkehr vom Mann als Lösung propagierte. So will keine mehr Feministin sein – und landet unversehens wieder im Schema der Uroma. Nur fünf Lebensjahre früher.

Haarmann findet solche Ungereimtheiten allenthalben und setzt ihnen etwas entgegen: Entspannung, Akzeptanz des eigenen Seins und der eigenen Scham, und Weisheiten von Shoshonen oder aus dem Kamasutra, die teilweise esoterisch daherkommen. Doch es gibt schon zu denken, dass das Kamasutra 36 Vaginaltypen kennt, während in unseren Breitengraden nur ein einziger die Lehrbücher ziert – womit die 35 anders gebaute Frauen schon mal ins Zweifeln kämen, ob ihre unteren Formen vielleicht „nicht normal“ seien. Dazu passend bietet die Intimchirurgie schon „Schamlippenverkleinerung mit Klitorismantelstraffung“ an. Wären wir bewanderter im Kamasutra, würden wir angesichts solcher Offerten vielleicht nur milde lächeln.

Die Kluft zwischen Enttabuisierung und wirklicher Freiheit im Umgang mit seinem eigenen Körper wird im Zeitalter der Koitus- und Orgasmus-Counts eher größer als kleiner. Haarmanns Buch überlässt das Ausloten dieser Kluft nicht mehr der Einzelperson und ihrer Privatsexualforschung, sondern stellt sie erneut zur Debatte. Gut so.

Claudia Haarmann: „Untenrum – Die Scham ist nicht vorbei“. Innenwelt-Verlag, Köln 2005, 220 Seiten, 16,80 €