Forever young

Vom Willen, jung zu sein, zum Zwang, jung zu bleiben: Die französischen Studenten rebellieren, um erwachsen werden zu können – was die Regierung ihnen verweigert. Mit Mai 68 hat das nichts zu tun

VON ISOLDE CHARIM

Ein neuer Mai 68. Mit dieser Zuordnung ist man allerorten schnell bei der Hand, wenn es um die Jugendrevolte geht, die Frankreich gerade erlebt – egal, ob dies nun eine Hoffnung nährt oder eine Befürchtung ausdrückt. Mai 68 ist die Mutter aller Jugendrevolten, der Archetyp, der nicht nur das Modell für Revolten, sondern auch für Jugendlichkeit abgibt. Nun sind aber die gegenwärtigen Proteste gegen das so genannte CEP, den „Erstanstellungsvertrag“ (Contrat Première Embauche), weit von 68 entfernt. Derzeit wird nicht für das Ende einer alten und die Heraufkunft einer neuen Ordnung marschiert, die Jungen – Schüler ebenso wie Studenten – gehen vielmehr auf die Straße, um Teil der bestehenden Ordnung zu werden. Sie demonstrieren, um sich zu integrieren.

Damit erfüllt ihre Proteste nicht die Matrix, die 68 vorgegeben hat: Weder als Revolte noch in ihrem Bild von Jugendlichkeit setzen sie diese Tradition fort. Genau dies ist aber ein Vorwurf, dem sie sich ausgesetzt sehen: Was sind das für Jugendliche, die für ihre Anstellung auf Lebenszeit kämpfen?

Aber trifft dieses Kopfschütteln über eine nicht jugendliche Jugend den Kern der Sache? Rebellieren sie tatsächlich für ihr Recht auf Biederkeit? Diese Paradoxie ist nicht die ihre. Sie rührt vielmehr daher, dass die Attribute der Jugend, ungestüm, ungebunden und frei zu sein, aus einem Privileg in eine ökonomische Ressource verwandelt wurden, die sich nun gegen sie wendet. Der CEP übersetzt „Sturm und Drang“ mit „Prekarität“, mit anhaltender Unsicherheit der ökonomischen Verhältnisse.

Junge werden heute vor allem als Konsumenten betrachtet, bestenfalls noch als Studenten. Was für sie nicht vorgesehen ist, ist eine Zukunft. Allseits wird akzeptiert, dass Arbeit heute flexibel ist. Diese janusköpfige Entwicklung wird vorwiegend mit ihrem freundlichen Gesicht, der Befreiung von Zwängen, gezeigt. Das Leben jedoch kann mit dieser Flexibilisierung der Arbeit nicht immer Schritt halten. Mieten müssen gezahlt, Kinder ernährt werden. Flexibel ist man, vielleicht, wenn man wirklich jung ist. Deshalb sollen Berufsanfänger nun weiterhin in diesem Status der Jugend und der Unmündigkeit gehalten werden.

„Forever young“ – das ist heute ein „Versprechen“ von Villepin. Aus dem Schlachtruf der Jugendbewegung ist eine Drohung geworden. Mit dieser Rebellion vollziehen die Jungen den Akt des Erwachsenwerdens, den der CEP ihnen vorenthalten will. Es ist keine Revolte für die Biederkeit, sondern für einen Platz in der Gesellschaft.

Darin liegt sowohl Nähe als auch Differenz zu den Unruhen in den Banlieus im vergangenen Herbst. Hier wie dort wurde dasselbe Begehren nach Dazugehören, nach Integration ausgedrückt – wenn auch mit sehr verschiedenen Mitteln. Die Unterschiedlichkeit der Mittel zwischen gewaltsamen Ausschreitungen hier und organisierter politischer Auseinandersetzung da ist keineswegs zufällig. Vergleicht man die Jugendlichen aus den Banlieus mit jenen, die nun im Inneren der Stadt auf der Straße sind, so befinden sich Erstere nicht nur geografisch außen, während Zweitere innerhalb der Gesellschaft agieren. Der CEP wird von vielen aber als jener Schritt wahrgenommen, der den Unterschied zwischen Banlieu und Cité, zwischen Innen und Außen in eine Vorher-Nachher-Bildfolge verwandelt. Statt einer Verbesserung für die einen erfolgt eine Negativangleichung: Prekarität für alle – für alle Jungen.

Diese erfahren damit gleichzeitig auch, dass ihre Diplome – das Abitur ebenso wie der Hochschulabschluss – nichts wert sind. Le Monde hatte eine Karikatur, die einen jungen Mann im Anzug mit dem Etikett „Abitur“ beim Straßenkehren zeigt, neben seiner graduierten Kollegin im Kostüm beim Servieren. Die Abschlüsse bedeuten keinen Schutz mehr. Damit wird der ganze Bereich der Bildung in Frage gestellt.

Der Glaube an die Notwendigkeit einer allgemeinen Bildung bezog sich nicht nur auf deren Inhalte, sondern ebenso auf eine Ausdehnung ihrer Trägerschichten. Es war ein emanzipatorisches Ideal, dass mit der Erziehung der Massen eine fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft verbunden sei. Nicht zuletzt dieser Glaube hat dazu beigetragen, das allgemeine Bildungsniveau anzuheben. Erhöhung der Abiturientenzahlen und Massenuniversitäten waren die Folge – ein „Bildungsüberschuss“. Dieser produziert nicht nur eine rasant zunehmende „qualifizierte“ Arbeitslosigkeit, er stellt auch generell das Konzept der Bildung, das bislang als Allheilmittel für gesellschaftliche Probleme beschworen wurde, nachhaltig in Frage. Das Bildungsideal ist mit den daran geknüpften Hoffnungen zu begraben. „Die Utopie“, so der französische Soziologe François Dubet, „liegt hinter uns.“

In diesem Zusammenhang muss man auch die Antwort auf die Frage suchen, weshalb der CEP solch eine Reaktion auslösen kann. Zum einen reagieren die Jungen auf eine einzelne Entscheidung der Regierung, da sie die Chance sehen, gegen diese etwas auszurichten – im Unterschied zu Revolten gegen politische oder ökonomische Entwicklungen im Großen. Gleichzeitig aber machen sie diese einzelne Bestimmung zum neuralgischen Punkt, an dem ein Konflikt zu einer Frage der Identität und der sozialen Gerechtigkeit wird. Diese Aufladung, die eine technische Regelung in einen symbolischen Einsatz verwandelt, aber ist es, die zu der anhaltenden Ausweitung des Konflikts führt.