„Gott tötet nicht“

Vor dreißig Jahren putschte in Argentinien das Militär. Ein Gespräch mit dem Bildhauer und Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel über das Gefängnis, die Verstrickungen der europäischen Regierungen und die Hoffnung auf Veränderungen

INTERVIEW BERND PICKERT

taz: Erinnern Sie sich, wo Sie in der Nacht des Militärputsches vom 23. auf den 24. März 1976 waren?

Adolfo Pérez Esquivel: Ich verteilte Informationen über die Lage der Menschenrechte an verschiedene Botschaften, weil wir ja wussten, dass es einen Militärputsch geben würde. Er war seit vielen Tagen angekündigt. Es hatte ja schon den Putsch in Chile gegeben, in Brasilien, in Uruguay – es fehlte in Lateinamerika eigentlich nur noch Argentinien. Ich dachte erst, es würde glimpflich abgehen. Aber schon am folgenden Tag begannen die Entführungen, und zu uns kamen Frauen und alte Menschen, die ihre Angehörigen suchten.

Fürchteten Sie nicht um Ihr eigenes Leben?

Mich hat in diesem Moment gerettet, dass ich am 29. März das Land verlassen musste, weil ich von Freunden in Europa auf eine Rundreise mit vielen Vorträgen eingeladen worden war. So bin ich ausgereist, und das hat mir das Leben gerettet, denn zwei Tage später kamen sie mich suchen. Sie nahmen alle Leute von Serpaj fest, auch meinen Sohn.

Wo haben Sie davon erfahren?

In Bern. Die österreichische Botschaft hat sich dann um meinen Sohn gekümmert, ihn aus der Haft geholt und in der Botschaft untergebracht. Später konnten wir ihn aus Argentinien nach Europa holen. Wir waren zuerst in der Schweiz, dann in Wien und Brüssel, schließlich in Paris, von dort aus reiste ich nach Ecuador. Dort erlebten wir eine harte Repression durch die Internationale des Terrors, die Operation Condor. Ich nahm an einem Treffen lateinamerikanischer Bischöfe in Riobamba teil, als ein Regiment mit Waffen und Tränengasgranaten die Veranstaltung stürmte und alle Teilnehmer festnahm. Ich wurde nach Kolumbien ausgewiesen und kehrte von dort aus nach Argentinien zurück. Dort wurde ich festgenommen, am 30. April 1977.

Wohin wurden Sie gebracht?

Man brachte mich in die Superintendenz der Staatssicherheit, was ein Folterzentrum war. Von dort wurde ich am 5. Mai 1977 im Morgengrauen auf den Flugplatz von San Justo gebracht. Im Flugzeug wurde ich angekettet, und wir flogen rund zwei Stunden lang über den Rio de la Plata. Ich sah die Küste von Montevideo, die Insel Martin García, und das Flugzeug flog immer in Schleifen und wartete auf den Befehl, mich hinauszuwerfen. Aber es kam ein anderer Befehl, und ich wurde auf eine Luftwaffenbasis gebracht, und von dort in ein Hochsicherheitsgefängnis in La Plata. Dort war ich 14 Monate lang eingesperrt, und dann 14 weitere Monate unter Überwachung frei.

Wie erklären Sie sich, dass Sie nicht aus dem Flugzeug geworfen wurden?

Ich habe dank der internationalen Solidarität überlebt, etwa der Kirchen, aber auch Robert und Edward Kennedys, die bei der argentinischen Regierung protestiert haben.

Es war ja für Sie keine Überraschung, verhaftet zu werden. Sie wussten von der Gefahr. Hat dieses Wissen Ihnen die Haft erleichtert?

Die Haft war für mich hart, aber eine Lehre. Ich habe gelernt, zu widerstehen, damit sie mich weder psychologisch noch geistig brechen. Als Christ war für mich das Gebet überlebenswichtig. Als sie mich in die Superintendenz brachten, war ich 32 Tage lang in einer Röhre eingesperrt, die vielleicht so groß war wie ein Wohnzimmertisch, allerdings ein bisschen höher. Es war stockfinster, aber immer, wenn sie die Tür aufmachten, kam ein bisschen Licht herein, und ich konnte lesen, was an die Wände geschrieben war: Das waren Namen von geliebten Menschen, Flüche, Namen von Fußballvereinen. Aber es gab an der Wand auch einen großen Blutfleck. Und mit diesem Blut war etwas geschrieben, man sah sogar die Fingerabdrücke in dem Blut: „Gott tötet nicht“ stand da. Das hat sich mir für immer eingebrannt.

Wissen Sie, wer das geschrieben hatte?

Nein.

Europa hatte ja eine Doppelrolle: Einerseits fanden hier viele Flüchtlinge Unterschlupf, andererseits waren die europäischen Regierungen Verbündete der Diktatur.

Die Solidarität kam aus der Bevölkerung, von den Kirchen, den sozialen Organisationen. Nicht von den Regierungen.

Der Fall der in Argentinien getöteten Elisabeth Käsemann, die keine Hilfe von der deutschen Politik erhielt, scheint doch klar zu zeigen, dass Deutschland seine Beziehungen zur argentinischen Diktatur in den Kalten Krieg und den Kampf gegen den Linksterrorismus einordnete. Haben Sie Deutschlands Rolle auch so gesehen?

Es gab den Kalten Krieg. Die deutsche Botschaft wusste, was in Argentinien geschah. Aber in der Regel gingen die Interessen der Unternehmen vor, die mit der Diktatur zusammengearbeitet haben, wie Mercedes-Benz aus Deutschland und Ford aus den USA, die die Diktatur benutzt haben, um unliebsame Arbeiter verschwinden zu lassen.

An welchem Punkt kippte denn die Verbindung der Regierungen mit der Diktatur?

Der Niedergang der Diktatur war absehbar. Der Malwinen(Falkland)-Krieg war nur die Spitze des Eisbergs. Die Diktatur hat sich stets an der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ orientiert, die von den USA im Kampf gegen die „Subversion“ ausgegeben worden war und sich am Ost-West-Konflikt verortete. Mit der Unterstützung der USA für Großbritannien im Malwinen-Krieg wurde klar, dass es eigentlich aber ein Nord-Süd-Konflikt war. Die angeblichen Verbündeten waren gar keine. Damit bricht alles zusammen. Und damit beginnt überall die Demokratisierung Lateinamerikas.

1980 erhielten Sie den Friedensnobelpreis. Wie hat das Ihr Leben verändert?

Zwei Tage, nachdem ich den Preis zugesprochen bekommen hatte, versuchte die Diktatur, mich zu ermorden. Wir waren auf dem Weg zum Büro von Serpaj in Buenos Aires. Mein Sohn saß am Steuer. Ich sah aus dem Fenster, und da kamen zwei Leute mit Waffen in der Hand auf uns zugerannt. Mein Sohn schaltete in den Rückwärtsgang, aber das hätte nicht gereicht, wenn nicht plötzlich ein Taxi vor uns quer gestanden hätte, so dass sie nicht schießen konnten. So sind wir davongekommen.

War das die einzige Wirkung des Nobelpreises?

Nein. Der Nobelpreis war wie die Öffnung eines Schleusentores. Vorher hat mir niemand zugehört. Wenn einer Nobelpreisträger ist, hören ihm alle zu.

Sie haben kürzlich gesagt, dass es in Argentinien zwar in den letzten Jahren große Fortschritte in Bezug auf die Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur gegeben hat, dass aber das sozioökonomische Modell der Diktatur weiter existiert. Haben Sie den Kampf letztlich verloren?

Nein. Wir kommen voran in der sozialen Organisation der Menschen. Lateinamerika verändert sich. Die indigenen Völker stehen auf, ein Indígena regiert Bolivien! Lateinamerika ist dabei, seinen eigenen Weg zu suchen und sich nicht dem zu unterwerfen, was die USA vorgeben.

Aber entstehen daraus wirklich gangbare Alternativen?

Wir müssen die Frage stellen, wo eigentlich die Macht ist. Eine lateinamerikanische Regierung hat heute überhaupt keine Macht. Sie sind Verwalter von Steuereinnahmen, die sie brauchen, um den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank und die Gehälter der Staatsangestellten zu bezahlen.

Zurück zu Argentinien und zur Rolle der Europäer. Es ist oft gesagt worden, dass die europäischen Klagen gegen lateinamerikanische Militärs sehr dabei geholfen haben, die Verfahren auch in den Ländern selbst voranzubringen, etwa im Fall Pinochet und seiner Verhaftung in London 1998, aber auch im Fall der deutschen Verfahren gegen argentinische Militärs. Welche Rolle müssten Deutschland und die EU denn heute spielen?

Was die deutschen Verfahren in Sachen der deutschen Verschwundenen in Argentinien angeht, hat der deutsche Staat eine Verantwortung, die er nicht abgeben kann. Es geht um deutsche Staatsbürger, die in Argentinien entführt worden sind. Es ist die Verantwortung des deutschen Staates, die Verantwortlichen zu ermitteln und zu verurteilen, so wie es andere Staaten auch getan haben: Italien, Frankreich, Spanien, Schweden.

Und darüber hinaus?

Wenn heute Flughäfen genutzt werden, um Leute verschwinden zu lassen, wenn man Menschen entführt und misshandelt, wenn es kein Recht auf Verfahren gibt – dann ist das eine Bedrohung für alle. Wenn wir nicht internationale Rechtsstrukturen schaffen, um das zu verhindern, dann kann es in jedem unserer Länder wieder passieren.

Die letzten 30 Jahre erscheinen widersprüchlich: Ein enormer Fortschritt bei der Entwicklung internationaler Rechtsnormen und der Internationale Strafgerichtshof – und Rückschritte, wie Sie sie beschreiben. Wo stehen wir?

Uns fehlen noch immer internationale Instrumente. Der Internationale Strafgerichtshof kann nicht rückwirkend tätig werden, und einige wichtige Mächte boykottieren ihn: USA, China, Indien … Aber die Bevölkerungen fordern doch heute stärker ihre Rechte ein als früher. Es ist ein langsamer Prozess. Die große Revolution liegt in den kleinen Veränderungen im Alltag.