„Lernen, mit Risiken zu leben“

INTERVIEW CHRISTIAN RATH

taz: Herr Hassemer, der Strafverteidigertag diskutiert an diesem Wochenende über die Schaffung eines Feindstrafrechts. Was ist damit gemeint?

Winfried Hassemer: Das Konzept eines „Feindstrafrechts“ unterscheidet zwischen einem Bürgerstrafrecht, bei dem der Angeklagte die üblichen rechtsstaatlichen Garantien für einen fairen Prozess besitzt, und einem Feindstrafrecht mit deutlich weniger Hemmungen, bei dem es vor allem um die Sicherheit der Gesellschaft geht.

Brauchen wir ein Feindstrafrecht?

Wenn ein Angeklagter nicht mehr als Person, sondern nur noch als Feind betrachtet wird, dann wäre das ein klarer Angriff gegen die Menschenwürde, also völlig indiskutabel.

Außer dem Bonner Strafrechtsprofessor Gunther Jakobs propagiert eigentlich niemand ein Feindstrafrecht. Dennoch wird immer häufiger darüber diskutiert – nur weil man sich so schön aufregen kann?

Nein. Das Feindstrafrecht ist ein Verdichtungssymbol. Es zeigt den Preis, den manche heute schon für Sicherheit zu bezahlen bereit sind. Und als Beschreibung für aktuelle Tendenzen des Strafrechts, das immer mehr zum Sicherheitsrecht wird, ist der Begriff des Feindstrafrechts durchaus erhellend.

Strafrecht diente doch schon immer der Sicherheit …

Früher stand die Strafe für sich selbst, sie diente der Vergeltung, der Sühne einer bösen Tat. Erst im letzten Jahrhundert setzte sich massiv die Idee durch, dass Strafrecht präventive Zwecke verfolgt. Nun geht es um die Resozialisierung der verurteilten Täter, die Abschreckung potenzieller Krimineller und die Stärkung des Normvertrauens der übrigen Bevölkerung.

Haben Sie etwas gegen Prävention?

Überhaupt nicht. Wir können staatliche Strafen vor dem Grundgesetz schließlich nur rechtfertigen, wenn sie einen sinnvollen Zweck verfolgen, und die Verhütung von Straftaten ist ein äußerst sinnvoller Zweck. Ein reines Vergeltungsstrafrecht hätte vor dem Grundgesetz keinen Bestand. Aber ich warne vor Auswüchsen, wenn das Sicherheitsdenken das Strafrecht zu sehr bestimmt. Denn der Schutz vor Gefahren führt tendenziell zur Maßlosigkeit. Wenn ein Täter gefährlich ist, kommt man schließlich schnell auf die Idee, dass man ihn wegsperren muss, bis er nicht mehr gefährlich ist.

Was ist daran maßlos?

Man verliert leicht aus den Augen, was der Täter bisher getan hat. Es muss aber ein Merkmal des Strafrechts bleiben, dass die Strafe sich immer an der Schwere der Tat orientiert. Und nur ganz ausnahmsweise kann es daneben für fortdauernd gefährliche Täter eine präventive Sicherungsverwahrung geben. Dann wird der Täter nach Verbüßung seiner Strafe nicht entlassen, sondern bleibt in staatlichem Gewahrsam.

Gehört die Sicherungsverwahrung zu den Auswüchsen des Strafrechts, vor denen Sie warnen?

Ich halte es für legitim, dass sich die Gesellschaft solche Mittel gibt, um sich vor Risiken zu schützen. Aber ich würde lieber in einer Gesellschaft ohne Sicherungsverwahrung leben.

Warum?

Ich glaube, hier zeigt sich ein Verlust an Gott- oder auch Weltvertrauen. Die Menschen haben heute mehr Angst vor Verbrechen als früher. Nicht weil es mehr Verbrechen gibt, sondern weil orientierende Werte verschwinden, weil moderne Gesellschaften viele und spektakuläre Risiken mit sich bringen und deshalb auch das Kontrollbedürfnis zunimmt.

Wie reagieren Sie als Verfassungsrichter darauf?

Das Verfassungsgericht muss akzeptieren, dass es eine rein präventiv ausgerichtete Sicherungsverwahrung gibt, Das hat der Gesetzgeber ohne Verfassungsverletzung so entschieden. Aber das Gericht achtet darauf, dass die Anwendung dieses äußerst einschneidenden Instruments rational bleibt, dass die Gefährlichkeit eines Täters durch gut ausgebildete Gutachter festgestellt werden muss und dass immer wieder überprüft wird, ob die Gefährlichkeit noch anhält.

Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hat einmal gesagt, Sexualtäter sollte man „wegschließen und zwar für immer“ …

„Wegsperren für immer“ ist kein vernünftiges Konzept. So funktioniert auch Prävention nicht. Wenn eine Person nicht mehr gefährlich ist, muss sie aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden.

Welche Auswüchse sehen Sie noch im Strafrecht?

Ich finde es bedenklich, dass der Gesetzgeber immer mehr abstrakte Gefährdungsdelikte einführt. Hier wird nicht die Verletzung von Rechtsgütern wie Gesundheit, Vermögen oder Ehre bestraft, sondern deren bloße Gefährdung. Dazu gehören weite Teile des Drogen- und Wirtschaftsstrafrechts oder die Bestrafung krimineller und terroristischer Vereinigungen.

Abstrakte Gefährdungsdelikte hat es doch schon immer gegeben. So wird ein Autofahrer bestraft, wenn er betrunken fährt – auch wenn er niemand verletzt oder konkret gefährdet hat.

Das stimmt. Es ist auch nachvollziehbar, dass in einer Gesellschaft mit hohen Risiken nicht gewartet wird, bis es zur Verletzung kommt, sondern dass schon das gefährliche Verhalten bestraft wird. Ich warne auch hier nur vor Übertreibungen, vor einem Überhandnehmen solcher Straftatbestände. Denn hier verblasst das konkrete Unrecht, und die individuelle Schuld verschwimmt. Das führt dazu, dass das Strafrecht nicht mehr richtig ernst genommen wird.

Was meinen Sie damit?

Es ist ja nicht zufällig, dass die Deals im Strafrecht vor allem bei abstrakten Gefährdungsdelikten angewandt werden. Es käme wohl niemand auf die Idee, den Schuldspruch bei einem Mord auszuhandeln. So etwas macht man bei Umweltgefährdung oder komplizierten Fällen von Subventionsbetrug. Es ist hier einfach kein ausreichendes Interesse mehr da, herauszufinden, was wirklich passiert ist und wie es strafrechtlich zu bewerten ist. Zugleich werden so auch rechtstaatliche Garantien beiseite geschoben. Beim Deal ist eben nicht sichergestellt, dass jemand nur verurteilt wird, wenn seine Schuld hinreichend bewiesen ist, weil man die vollständige Beweisaufnahme abkürzt.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat vorgeschlagen, dass demnächst der Besuch eines terroristischen Ausbildungslagers bestraft werden soll. Ist auch das ein abstraktes Gefährdungsdelikt?

Natürlich. Denn auch hier wird ein Verhalten weit im Vorfeld eines echten Verletzungsdeliktes bestraft.

Und Sie halten das kriminalpolitisch für verfehlt?

Ich stehe zur alten Maxime, dass das Strafrecht Ultima Ratio sein sollte, also das letzte Mittel. Was mit den Mitteln des Polizeirechts machbar ist, sollte deshalb nicht strafrechtlich gelöst werden.

Damit rehabilitieren Sie nachträglich den früheren Bundesinnenminister Otto Schily. Der hatte eine rein polizeirechtliche Sicherungshaft für gefährliche Islamisten gefordert, die nicht abgeschoben werden können.

Wenn ich sage, Polizeirecht geht im Zweifel vor, dann heißt das nicht, dass man mit dem Polizeirecht alles machen kann, was man will. Auch dort gibt es natürlich bewährte rechtsstaatliche Grenzen, zum Beispiel das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

Schily hatte eine mehrmonatige Sicherungshaft für Menschen vorgeschlagen, die noch nichts Strafbares getan haben. Ist das verhältnismäßig?

Dazu will ich mich nicht äußern, sonst bin ich befangen, wenn wir einmal über ein solches Gesetz entscheiden müssen.

Beim Strafverteidigertag an diesem Wochenende halten Sie das Hauptreferat. Was ist Ihre Botschaft?

Ich appelliere an die Strafverteidiger und die liberalen Strafrechtswissenschaftler, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ernst zu nehmen. Es macht keinen Sinn, grundsätzliche Abwehrkämpfe gegen das Sicherheitsparadigma zu führen, weil es in den kommenden Jahrzehnten vermutlich dominant bleiben wird. Mir geht es vielmehr darum, dieses Sicherheitsstrafrecht rechtsstaatlich auszugestalten. Wir müssen der Gesellschaft erklären, dass das Sicherheitsdenken im Strafrecht Grenzen hat und dass die Gesellschaft lernen muss, mit Risiken zu leben.

Deutschland hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 manche Gesetze verschärft, aber nicht das Strafrecht. Freut Sie das?

Manche sagen, Deutschland ist im Vergleich zu anderen westlichen Staaten eine Insel der Seligen, was den Rechtsschutz von Angeklagten angeht. Da ist was dran. Aber das kann sich schnell ändern, wenn es auch bei uns zu einem Anschlag wie in Madrid kommen sollte.