Mythos Säkularisierung

Die Aufmerksamkeit für Religion hat stark zugenommen – nicht zuletzt durch den Islam. Damit stellt sich auch die Frage nach der religiösen Verfassung unseres Gemeinwesens

Es ging den Kirchen in Deutschland noch nie so gut wie heute. Sie haben mehr Zulauf als die „Volksparteien“Ein Drittel aller Konfessionslosen wünscht sich mehr christliche Werte in der Politik

Als ein junges Mädchen aus Ostberlin kurz nach der Maueröffnung gefragt wurde, ob sie religiös sei, antwortete sie: „Nö, ich bin ganz normal!“ Weil Normalität ein gesellschaftliches Konstrukt ist, kann sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch das Verhältnis von Normalität und Religiosität verschieben – das nennt man dann einen Trend. Wenn auch die Metapher von der „Wiederkehr der Götter“ eine maßlose Übertreibung darstellt, so kann man doch feststellen, dass die Aufmerksamkeit für Religion in den letzten Jahren stark zugenommen hat.

Aber auch die neu beachtete Religion wird als fremde behandelt – sei es als islamische, sei es als fundamentalistische, jedenfalls nicht als eigene. In Nachkriegsdeutschland, im Osten wie im Westen, herrschte Konsens darüber, dass es mit der Religion scheinbar mit geschichtsphilosophischer Notwendigkeit abwärts gehe. Die Metapher von der Säkularisierung suggerierte, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt und immer bessere Bildung die Religion zum Verschwinden bringen würden. Diese Verfallstheorie wurde auch von Theologen vertreten und von den Kanzeln gepredigt: die Moderne sei eine glaubenslose Welt, in der die Christen nur als kleine Schar von Glaubenstreuen überleben könnten.

Die Plausibilität von Niedergangstheorien hängt an der Vorstellung, dass es früher um die Religion viel besser bestellt war. Den Kirchen in Deutschland ging es aber noch nie so gut wie heute. Die „Trennung von Staat und Kirche“ hat die Kirchen von staatlicher Bevormundung befreit. Ein Kulturkampf, wie ihn die katholische Minderheit durchzustehen hatte, ist heute undenkbar. Die Weltanschauungskämpfe der Weimarer Republik gehören der Vergangenheit an. Die SPD, die in der Weimarer Republik noch Kirchenaustrittswochen organisierte, hat, bis auf eine kleine Berliner Minderheit, ihren Frieden mit den Kirchen gemacht. Selbst in der DDR ist der Versuch, die Kirchen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, nicht gelungen. Die Bedeutung öffentlicher Kirchenräume und offener Pfarrhäuser in der Wendezeit kann schwer überschätzt werden. Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche dokumentiert, dass Religion auch im Osten keine Privatsache, sondern von öffentlichem Interesse ist.

Nun kann man einwenden, dass nur noch 28 % der Bürger in den neuen Bundesländern Kirchenmitglieder sind. Gesamtdeutsch stellt sich die Lage genau umgekehrt dar: 28 % sind konfessionslos, gut zwei Drittel gehören einer christlichen Kirche an. Aber ein Vergleich mit den Parteien zeigt, wie stark die Kirchen noch in der Bevölkerung verankert sind. Es gibt in Deutschland 97,82 % Parteilose und 2,18% Parteimitglieder, so der Berliner Parteienforscher Niedermayer. Die Parteien halten das nicht für einen dramatischen Sachverhalt, denn sie rechnen damit, dass die distanzierten Bürgerinnen und Bürger alle paar Jahre bei den Wahlen ihrer Neigung zu der einen oder anderen Partei Ausdruck verleihen. Deshalb nennen sich die Parteien trotz ihres verschwindend geringen Mitgliederstandes nach wie vor „Volksparteien“.

Und was heißt schon „konfessionslos“? Anders als bei den Parteilosen unterstellt man bei den Konfessionslosen die Existenz einer Gruppe von Menschen, die in Analogie zu den Protestanten und den Katholiken gemeinsame Überzeugungen teilen. Das ist aber keineswegs der Fall. Es gibt Konfessionslose von Geburt an, und es gibt Konfessionslose, die aus finanziellen Gründen die Kirche verlassen haben. Es gibt Konfessionslose, die eine atheistische Weltanschauung besitzen, und solche, die beten und die Tradition des Christentums für wichtig halten. Es gibt Konfessionslose, die zwar christlich, aber kirchenkritisch sind. 32 % aller Konfessionslosen – so die neue Heitmeyer-Studie – wünschen sich eine stärkere Berücksichtigung christlicher Werte in der Politik. Das sozialdiakonische Engagement der Kirchen stößt bei ihnen auf große Zustimmung.

Warum nehmen viele Intellektuelle Religion trotzdem nicht ernst? Sie tappen in die Individualismusfalle: Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass Individuen rational handeln. Warum aber sollte sich ein vernunftbegabtes Individuum offensichtlich unbeweisbaren Dogmen, fremd anmutenden kultischen Begehungen und unnatürlichen moralischen Forderungen unterwerfen? Muss da nicht ein Mangel an Rationalität vorliegen? Der Soziologe Emile Durkheim gab darauf die verblüffende Antwort, dass Religion eben kein Werk der individuellen Vernunft, sondern das Produkt eines kollektiven Bewusstseins sei. Jedes Individuum finde sich in religiösen Traditionen vor, zu der es sich verhalten müsse – sei es häretisch, sei es zustimmend. Religionen und Weltanschauungen begegneten dem Individuum als kollektive Erwartungen. Selbst der moderne Individualismus sei nicht das vernunftgeleitete Produkt des Freiheitswillens von Individuen, sondern ein gesellschaftlicher Zwang, der sich auch jenen auferlege, die lieber nicht so individualistisch und so risikoreich leben möchten.

Menschen als Individuen handeln anders als Menschen im Kollektiv. Im Fußballfanblock verhält sich der Einzelne anders als beim Vollzug eines religiösen Rituals. Unter rationalen Gesichtspunkten ist Fußballspielen und Ins-Stadion-Gehen genauso unnormal wie Beten und In-die-Kirche-Gehen. Versteht man Religion aber nicht mehr als eine unvernünftige individuelle Tätigkeit, sondern als einen sozialen Tatbestand, dann wird man mit Religion einerseits entspannter umgehen können, die Chancen allerdings, sie zwangsprivatisieren zu können, für sehr gering halten. Klaus Wowereit wünschte kürzlich der Synode der Evangelischen Kirche bei seinem Grußwort „Gottes Segen“. Niemand wird daraus Schlüsse über die persönliche Frömmigkeit des Regierenden Bürgermeisters ziehen. Aber offensichtlich gibt es ein steigendes Bedürfnis unserer politischen Repräsentanten nach religiösen Ausdrucksformen. Bleibt nur die Frage, ob der Bürgermeister seinen Beamten den öffentlichen Gebrauch religiöser Zeichen verbieten darf, wenn er selbst vor dem Gebrauch religiöser Begriffe nicht zurückscheut.

Nicht nur Religionsgemeinschaften, sondern auch Gesellschaften leben von fundamentalen Gewissheiten über ihren Ursprung, ihre Verfassung und ihre Bestimmung. Wer Religion konsequent privatisieren will, muss sich fragen, auf welche Quellen der Solidarität, des Vertrauens und der Hilfsbereitschaft, auf welche Visionen er denn zurückgreifen will, wenn er der heranwachsenden Generation eine bessere Welt verspricht. Fußball als Zivilreligion reicht jedenfalls nicht, und „Werte“ haben so lange keinen Wert, solange man sich weigert, über Wertehierarchien und Wertekollisionen offen zu diskutieren. Deshalb ist es nicht zielführend, beim Thema Religion gleich auf den Islam zu fokussieren. Spannender ist die Frage nach der religiösen Verfassung unseres Gemeinwesens. Denn wer heute nicht über Religion redet, der ist doch nicht normal. Oder? ROLF SCHIEDER