Die Union schwört auf Rütli

Die Debatte über die Lage an den Schulen nutzt der CDU: Mit dem Integrationsthema lässt sich prima Wahlkampf machen – zum Ärger der SPD. Immerhin: Unter Lehrern punktet die Union damit kaum

von Alke Wierth

„Das war die ungewöhnlichste Ausschusssitzung, die wir je hatten“, sagt Michael Anker, der für die PDS im Schulausschuss der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) sitzt. Zu dessen Sitzung, die am Mittwoch aus gegebenem Anlass in der Neuköllner Rütli-Schule stattfand, hatten sich mehr als hundert Gäste eingefunden: Mütter arabischer oder türkischer Herkunft mit Kopftüchern und Kinderwagen, ältere Männer mit den weißen Käppchen frommer Muslime, aber auch distinguierte Herren in dunklen Nadelstreifenanzügen – viele von ihnen Vertreter von Migrantenvereinen aus dem Umfeld der CDU.

Kurzerhand wurde die Versammlung aus einem Klassenzimmer in den Schulflur verlegt und eine Rednerliste beschlossen, um die Zahl der Wortmeldungen einzudämmen. „Wir wollten verhindern, dass die Sitzung zu einer Wahlkampfveranstaltung wird“, sagt Andreas Tetzlaff, der für die SPD im Schulausschuss sitzt. Ungewöhnlich prominent war in der Ausschusssitzung nämlich auch die CDU vertreten: vom Neuköllner Abgeordneten Sascha Steuer über den BVV-Fraktionschef Thomas Lepp bis hin zu ihrem Spitzenkandidaten Friedbert Pflüger.

Für ihn hätte es kaum besser kommen können: Die Debatte um schreckenerregende Zustände an Schulen gibt der CDU gleich zum Auftakt des Wahlkampfes die Chance, ein Thema zu besetzen, mit dem sich in breiten Teilen der Gesellschaft hervorragend auf Stimmenfang gehen lässt. Denn die Angst vor verwahrlosenden Schulen, an denen gewaltbereite Migrantenkinder Unterricht unmöglich machen, geht nicht mehr nur in konservativen Kreisen um.

Und die Union hat die Gelegenheit ergriffen: Bereits einen Tag bevor der Aufsehen erregende Brief des Lehrerkollegiums der Rütli-Schule über die dortigen katastrophalen Bedingungen in der Presse stand, hatte die CDU-Fraktion in der Neuköllner BVV einen Dringlichkeitsantrag gestellt. Unter anderem war darin Polizeipräsenz für die Rütli-Schule gefordert worden. Der Antrag wurde von den anderen Fraktionen abgelehnt.

Offen bleibe aber die Frage, wie die CDU an den Brief des Lehrerkollegiums gelangt sei, sagt SPD-Mann Tetzlaff. Den Mitgliedern des Ausschusses seien zwar die Zustände an der Rütli-Schule bekannt gewesen. Der Brief habe ihnen aber nicht vorgelegen. Ihn hatte die stellvertretende Leiterin der Rütli-Schule, Petra Eggebrecht, Ende Februar an die zuständige Schulrätin geschickt. Als deren Reaktion ausblieb, habe sie das Schreiben auch „an einige soziale Einrichtungen“ im Umfeld der Schule weitergegeben, sagte Eggebrecht am Mittwoch bei einer Versammlung Neuköllner Lehrer. Die drückten mit minutenlangem Applaus ihre Unterstützung für die Kollegen der Rütli-Schule aus. Dass die Schuld an den Problemen der Hauptschulen nun von manchen den Migranten zugeschoben wird, fand unter den versammelten Lehrern keine Zustimmung. „Wir stellen uns gegen die Ausländerfeindlichkeit, die jetzt aufzukommen droht“, sagte einer der Redner unter Beifall. Die CDU findet für ihr „krampfhaftes Festhalten“ am dreigliedrigen Schulsystem unter den Pädagogen wenig Unterstützung.

In der GEW betrachtet man die derzeitige Debatte mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auch dort lag der Brief der Rütli-Schule vor und von dort aus war er vergangene Woche an die Medien weitergegeben worden. Dass konservative Kreise das Thema für eine Integrationsdebatte nutzen würden, sei absehbar gewesen, sagt Norbert Gundacker, Vorsitzender der Fachgruppe Hauptschulen bei der Berliner GEW. Er habe es trotzdem für notwendig gehalten, den Brief an die Öffentlichkeit zu bringen: „Schulsenator, Schulverwaltung, auch die Schulaufsicht verschlafen die Probleme.“ Die Lage der Schulen sei aber kein „SPD-Problem“. Bereits unter der CDU-Bildungssenatorin Hanna-Renate Laurien habe die Gewerkschaft die Probleme angeprangert. Passiert sei auch damals wenig bis gar nichts.

Ein Problem hat die SPD aber mit der derzeitigen Debatte – an der Spitze wie an der Basis: Schulsenator Klaus Böger habe die volle Unterstützung der Fraktion, sagt das SPD-Mitglied im Abgeordnetenhaus, Ülker Radziwill. Genauso wie der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit – der hat allerdings gerade den Wunsch seines Schulsenators nach mehr Lehrern für die Hauptschulen abgelehnt.

Dass manche der Forderungen, die die CDU in Sachen Integration besetzt, auch unter Sozialdemokraten Zustimmung finden, macht die Lage nicht leichter. Denn Positionen wie jene, die Böger am Mittwoch im Bundestag vertreten hat, sind vielen Teilen der überwiegend deutschstämmigen Wählerschaft erheblich schwerer zu vermitteln als die Abschiebe-Parolen der CDU. Der Schulsenator hatte dort gesagt: „Wir müssen diese Kinder als unsere Kinder annehmen und nicht wegschicken!“

Auch Ülker Radziwill kennt dieses Vermittlungsproblem – und sie ist sauer: „Dass gerade die CDU, die vernünftige Integrationspolitik jahrzehntelang blockiert hat, das Thema für den Wahlkampf ausschlachtet, ist eine Unverschämtheit.“