Schäuble verslumt Neukölln

Bundesinnenminister will Slums in Neukölln ausgemacht haben. Bezirksbürgermeister Buschkowsky spricht von Ghettoisierungstendenzen. Fachleute warnen vor negativen Folgen der Stigmatisierung

VON GEREON ASMUTH

Die verbale Verwahrlosung in Neukölln hat eine neue Stufe erreicht. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat am Sonntag in einem Interview Teile des Berliner Bezirks als Slum bezeichnet. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) tat das zwar umgehend als „niveaulosen Quatsch“ ab. Es gebe allenfalls „Ghettoisierungstendenzen“ in Nord-Neukölln. Doch ob nun Ghetto oder Slum – vor Ort stoßen beide Titulierungen auf Unverständnis.

„Die sollten diese Begriffe umgehend zurücknehmen“, fordert Evrim Baba. Zwar gebe es durchaus soziale Konflikte in dem Bezirk, sagt die PDS-Abgeordnete, die seit zehn Jahren in Nord-Neukölln wohnt. Der Stadtteil sei aber keinesfalls so verkommen, dass man von einem Ghetto oder Slum reden könne. Im Gegenteil habe es durch das Engagement von Quartiersmanagement, Initiativen und Vereinen erste Erfolge gegeben. Das müsse nun herausgestellt werden. „Eine Verschärfung der Debatte bringt uns nicht weiter“, sagt Baba.

Auch der Streetworker Haroun Sweis hält Begriffe wie „Slum“ für falsch. Allenfalls gebe es Konzentrationen verschiedener Communities in bestimmten Straßenzügen. So werde die Sonnenallee unter arabischstämmigen Berlinern auch Araberallee genannt. Das aber sei, so Sweis, kaum anders als etwa bei deutschen Communities in den USA. Er fürchtet jedoch, dass durchaus Ghettos entstehen könnten. Denn die Erfolge sozialer Einrichtungen seien bedroht. So habe sein Projekt Outreach bis vor kurzem im Reuterkiez gearbeitet, „genau dort, wo es sinnvoll ist“. Das musste wegen Einsparungen eingestellt werden.

„Vor 15 Jahren arbeiteten noch drei Erzieher im Nachbarschaftsheim Neukölln, heute bin ich allein“, klagt auch der Pädagoge Burak Tamer. Er sieht – ähnlich wie Bürgermeister Buschkowsky – Tendenzen zur Ghettoisierung. Soziale Einrichtungen könnten nur noch reagieren, statt in Ruhe zu agieren. Deshalb, glaubt Tamer, liege in der Ghettoisierung sogar eine Chance. Denn die Mitglieder einzelner Communities würden sich sozial stützen. Dennoch warnt er vor der Verwendung zweischneidiger Begriffe. Wenn die Menschen erst einmal gelernt hätten, dass sie in einem Slum oder Ghetto leben würden, „dann kommen die gar nicht mehr hoch“.

Dass es auch genau andersrum laufen kann, hat Erika Hausotter erfahren. Als sie vor Jahren als Quartiermanagerin in Friedrichshain begann, hätten die Anwohner das Gefühl gehabt, in einem Problemkiez zu leben. Kaum hatte ihre Arbeitsgruppe sämtliche positiven Ansätze im Kiez aufgelistet, habe eine ältere Frau begeistert gesagt: „Seit ihr da seid, hat sich so viel zum Positiven verändert.“ Dabei, so Hausotter, „hatten wir noch kein einziges Projekt gestartet“.

Deshalb ist für die heutige Quartiersmanagerin im Kreuzberger Wrangelkiez die Debatte um „Slum oder Ghetto“ völlig kontraproduktiv. Das Hauptproblem seien vielmehr die fehlenden Arbeitsplätze. Die Kieze leiden darunter, dass die Bewohner keinen strukturierten Alltag haben, sagt Hausotter. Alle anderen Probleme seien Folgen davon. „Aber diesen Punkt löst die Politik derzeit überhaupt nicht.“

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