SPD: Weniger Programm, mehr Gerechtigkeit
: Kommentar

Mit Matthias Platzeck geht nicht nur ein Parteichef; mit ihm dürfte auch das kurze Experiment enden, die SPD wieder zu einer Programmpartei zu machen. Platzeck hat versucht, neu zu definieren, was sozialdemokratisch heißen soll. Noch auf dem Krankenbett verfasste er das letzte von diversen Grundsatzpapieren, das einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ formulieren sollte. Wie in allen Texten sollte der alte Sozialstaat verabschiedet und durch mehr Lebenschancen und Eigenverantwortung ersetzt werden.

Nun ist gegen Chancen nichts zu sagen, doch fiel die Einseitigkeit auf, mit der Platzeck auf das Individuum setzte. So kam der sozialdemokratische Traditionsbegriff der Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr vor. Als könnte sich jeder Einzelne allein dagegen wehren, dass die Kapitaleinkünfte steigen, während die Arbeitnehmer inzwischen weniger verdienen als noch 1998, als die SPD die Regierung übernahm.

Diese Ungerechtigkeit kann ein SPD-Chef nicht einfach ignorieren, wie es Platzeck tat, schon weil es vor allem die sozialdemokratische Basis ist, die die klaffenden Einkommensunterschiede als skandalös empfindet.

Allerdings stand Platzeck vor einem Dilemma: Programmatisch ist eigentlich kein Platz mehr zwischen der Linkspartei und dem gemäßigten Neoliberalismus, den Kanzlerin Merkel inzwischen vertritt. An diesem Problem leiden ja auch die Grünen.

Es wäre daher keine Überraschung, wenn Nachfolger Kurt Beck schlicht darauf verzichten würde, weiter an einem Programm herumzutexten. Damit kann er nur Mitglieder und Wähler verlieren, aber keine gewinnen. SPD-Vizekanzler Müntefering macht in der Regierung bereits vor, wie gut es sich ohne Programmbausteine leben lässt. Beispiel Gesundheitsreform: Sie wird sich irgendwo jenseits von Bürgerversicherung und Kopfpauschale bewegen, mit denen Union und SPD ihren Wahlkampf bestritten haben.

Die Bürger werden diese Abkehr vom Prinzip verzeihen. Sie haben sich noch nie besonders für Programme interessiert, sondern schon immer Personen gewählt. Insofern scheint Kurt Beck eine optimale Besetzung zu sein: Er verkörpert den sympathischen und volksnahen Hausvater, der den pragmatischen Mittelweg sucht. Das kommt an.

Es ist Platzecks Tragik, dass eigentlich auch er diese Eigenschaften vereinigt. Vielleicht wäre er erfolgreicher gewesen, wenn er seine Programmentwürfe nicht verfasst hätte. Auf sie jedenfalls sollte die Partei künftig verzichten. Denn sie spalten nur, ohne eine neue Gerechtigkeit zu formulieren. ULRIKE HERRMANN