Nicht weinen, Beck wählen

Die SPD hat schon wieder einen neuen Chef. Auch Linke finden plötzlich Beck ganz prima

AUS BERLIN STEFAN REINECKE
UND LUKAS WALLRAFF

Wortlos eilen die führenden Sozialdemokraten an den Mikrofonen vorbei ins Berliner Willy-Brandt Haus. Manche haben gerade erst beim Frühstück erfahren, dass ihr Chef zurücktritt. Nach nur fünf Monaten. Weil er nicht mehr kann, hört Matthias Platzeck auf. Im SPD-Fanshop (ja, so was gibt es) werden Taschentücher angeboten. „Nicht weinen, wählen“ steht darauf. Genau das tut die Parteiführung an diesem kalten Montag.

Nur wenige Minuten nach Platzecks Rücktrittserklärung ist seine Nachfolge bereits geregelt. Das SPD-Präsidium entscheidet, dass Kurt Beck das Amt übernimmt. Einstimmig. In der letzten Woche hatte Platzeck Beck und Müntefering informiert. Alles musste reibungslos gehen. Denn allen ist klar: Jetzt bloß kein Vakuum, bloß keine tagelange Debatte in den Medien über die Personalnot der SPD. Und so kommt es, dass plötzlich alle Beck gut finden. Sehr gut. Auch und insbesondere die Parteilinken. Selbst Heiko Maas findet es „logisch“, Beck zum neuen Chef zu wählen. Vor kurzem hatte der Saarländer noch gegen Schröders Agenda-Kurs gekämpft, den Beck mit voller Wucht vertrat. Aber das ist egal jetzt. Beck ist der einzige Kandidat, der in Frage kommt. Er ist der Einzige, der in den letzten Jahren eine Landtagswahl gewonnen hat – noch dazu mit absoluter Mehrheit. Und er passt zur großen Koalition, die er habituell immer schon verkörpert. Auch Andrea Nahles, die Sprecherin der Linken, erklärt, sie „hatte keine Sekunde Zweifel“. Es gehe jetzt darum, „die Organisation zu stärken. Die muss immer halten, auch wenn es Schicksalsschläge gibt“. Ex-Juso-Chef Nils Annen lobt, dass Beck „sich in der Partei für nichts zu schade ist“ und um Ortsvereine kümmert. Der SPD-Linke Karl Lauterbach hofft, dass Beck eine „echte Programmdebatte zulässt – gerade weil er programmatisch nicht festgelegt ist“.

Vor 146 Tagen sah alles anders aus. 99,4 Prozent der SPD-Delegierten wählten Platzeck zum SPD-Chef. Seine Rede wurde mit tosendem Beifall aufgenommen. Platzeck redet ruhig, besonnen, anders als das routinierte Kampfgetöse von Gerhard Schröder. Dieser sanfte Sound kam gut an – so gut, dass viele Genossen überhörten, was der neue Chef zu sagen hatte: nicht viel. Niemand konnte so schön Allgemeinplätze von sich geben wie Platzeck. Als SPD-Chef war er vielleicht nie viel mehr als das Bedürfnis nach ihm: nach jemand, der nach all den Machtworten und Ego-Trips von Gerhard Schröder freundliche, verbindliche Worte findet.

Es gab allerdings auch eine rationale Idee für seine Rolle, für eine Arbeitsteilung zwischen Regierung, Fraktion und Partei. Das Dreieck Müntefering, Struck und Platzeck sollte leisten,was in der Schröder-Ära missglückt war: die Zwänge des Regierens mit den Zielen der Partei zu verknüpfen. Unter Schröder blieb der Partei nie mehr übrig, als abzunicken, was der Kanzler gerade tat. Mit Platzeck verband sich die Hoffnung, dass die Partei wieder eine eigene Stimme hat. Und es gab auch Indizien dafür: etwa als er erfolgreich eine Nachbesserung bei der Familienförderung einforderte, die die Große koalition gerade harmonisch beschlossen hatte.

Doch Platzeck hatte es in dem Führungstrio schwer. Müntefering pflegt noch immer den Basta-Tonfall der Schröder-Zeit und bescheinigte der Partei – und damit deren Chef- „Kreisliganiveau“. Mit Struck, so heißt es, ist Platzeck auch nie warm geworden.

Woran also ist Matthias Platzeck gescheitert? Hat er die Krankheit vielleicht etwas dramatisiert, um freies Feld für den politischen Rückzug zu gewinnen? Zur Sprachregelung der SPD an diesem Tag gehört, dass dieser Rücktritt ein „Schicksalsschlag“ (Nahles) ist. „Krankheit ist Krankheit“, sagt Heiko Maas, „das entzieht sich dem Politischen.“ Und Jens Bullerjahn aus Magdeburg warnt davor, „Legenden in die Welt zu setzen“. Etwa dass es Widerstand gegen Platzecks Programmentwurf gab.

Platzeck berichtet vor der Presse über seiner Krankheit: im Januar der erste Hörsturz, im Februar ein Kreislaufkollaps und ein Nervenzusammenbruch, im März der zweite Hörsturz. Und noch mehr – aber was dieses Mehr ist, lässt er offen. Platzeck klingt wie immer glaubwürdig – und zerstreute so gezielt die Vermutung, er leide unter einer politisch nützlichen Krankheit.

Platzeck bleibt nun Ministerpräsident in Brandenburg. Und das lässt immerhin eine plausible Vermutung zu: Den Stress, der ihm Hörstürze bereitet, erfuhr er nicht in Potsdam, sondern im Berliner Willy-Brandt-Haus.

Von dort hört man seit gestern nur eine Botschaft: Möglichst wenig Veränderung. Der Ost-Sozialdemokrat Jens Bullerjahn wird Vizeparteichef – damit die interne Ost-West-Balance gewahrt bleibt. Hubertus Heil bleibt Generalsekretär. Irgendwie scheint die SPD sich selbst wie einen Patienten zu behandeln – und verordnet sich Ruhe, heißen Tee und keine Aufregung.

Interessanterweise setzt nicht nur die SPD-Linke ihre Hoffnungen auf Beck, sondern auch Edmund Stoiber. Der CSU-Chef glaubt, dass Beck die SPD von „manchen rot-grünen-Fixierungen“ löst. Die Wahrheit ist im Moment wohl, dass niemand weiß, was Beck als SPD-Chef tun wird, noch nicht mal er selbst. Konfrontation ist von dem jovialen Beck kaum zu erwarten, ebenso wenig wie scharfsinnige Programmideen. Mit Struck, Müntefering und Beck hat die SPD nun jedenfalls ein biografisch homogenes Führungstrio: allesamt erfahrene Parteisoldaten aus dem Westen.

Als Kanzlerkandidat kann man sich den Provinzler Beck, der schon so lange zum politischen Mobiliar der Republik gehört, kaum vorstellen. Oder doch? Bei der SPD dauert es derzeit manchmal nur zwei Tage, bis aus dem Unwahrscheinlichen das Normale geworden ist.