Staates Stützen

Wiederentdeckt: Günter Jordans Dokumentarfilm „Berlin Auguststraße“ von 1979 zeigt den Problembezirk Mitte

Ja, es gab ein Leben vor der Gentrifizierung. Hinter den herausgeputzten Ecken um die Friedrichstraße zeigte das Ostberlin der Siebzigerjahre seine schlechten Zähne. Zum Beispiel in der Dokumentation „Berlin Auguststraße“ von Günter Jordan, die jetzt wiederentdeckt wurde.

Auf verblüffende Weise greift das 1979 von der Defa produzierte Portrait einer Klasse an der Bertold-Brecht-Oberschule in die Gegenwart hinein. „Berlin Auguststraße“ korrigiert das Bild vom leicht spukhaft verlassenen Schauplatz, als den die Kuratoren der 4. Berlin Biennale die zu DDR-Zeiten umbenannte, ehemalige Jüdische Mädchenschule ausgewählt haben. Plötzlich wird der Ort auch ohne theatralisch flimmernde Lampen und inszenierte Kalter-Krieg-Tristesse lebendig, erhält überhaupt das Scheunenviertel eine Geschichte zurück, die Galerien und In-Lokale heute verdecken.

Jordan blickt von den Dächern in die Hinterhöfe, zoomt auf kratergroße Löcher in den Fassaden, über zerbeulten Asphalt und rottende Balkone. Offenbar bestand Handlungsbedarf für den SED-Staat – was müssen wir tun, damit in weniger attraktiven Gebieten der Hauptstadt keine Unzufriedenheit wächst? Wie sieht der Alltag der dort lebenden Kinder aus, die später einmal Stützen der Deutschen Demokratischen Gesellschaft werden sollen?

Propaganda ist der Film nicht, wohl aber ein besorgtes Statement. Deshalb werden die Schüler, die Jordan mehrere Wochen begleitet hat, immer wieder danach befragt, was noch gemacht werden muss, damit der Sozialismus wirklich lebenswert ist. Doch den Kindern gefällt ihr Kiez, Probleme haben sie eher mit der ständigen Aufforderung zur Kritik. Petra träumt davon, „ein normaler Mensch“ zu werden; und Thomas hätte bloß gern mehr Freiraum in der verwalteten Welt aus Schule, Erziehung und Freizeit nach Plan. Dagegen entpuppt sich der kumpelhafte Lehrer als unbarmherziger Pädagoge, der von der Verantwortung des Kollektivs spricht und stets Einverständnis mit dem System meint. Dermaßen anschauliches Material zum totalitären Alltag, aber auch zu den Ungereimtheiten des einfachen Lebens, für das sich die Berlin Biennale angeblich interessiert, sucht man im derzeitigen Gesamtkunstwerk Auguststraße leider vergebens.

HARALD FRICKE

Ab Donnerstag, im Blow Up, Immanuelkirchstraße 14