Der metaphysische Punk

Europa ist erschöpft, zumindest auf dem Theater. Unter dem Motto „Warten auf die Barbaren?“ richtete das U.T.E.-Festival im Düsseldorfer Schauspielhaus den Blick zwei Wochen lang nach Osten

VON REGINE MÜLLER

„Barbar“ steht auf dem windschiefen Schild einer Wellblechbude, die im Foyer des Düsseldorfer Schauspielhauses Soleier, saure Gurken und Wodka kredenzt. Strenge Osteuropadiät für eine kleine Schar von Besuchern, die sich auf das hoch aufgehängte Festival der Union der Europäischen Theater (Union des Théâtres de l'Europe, kurz U.T.E.) verirrt haben.

Ob die seltsame Bar als Tankstelle für authentisches Ost-Feeling oder bloß als ironischer Kommentar gedacht war, ist fast so schwer zu sagen, wie sich ein Festivalfazit ziehen lässt. Zumal das nüchterne Endergebnis jenseits inhaltlicher Überlegungen ziemlich traurig aussieht: Das Publikumsinteresse war schwach, ja verschwindend gering. Am Thema kann es nicht gelegen haben. Oder doch?

Will man nichts mehr hören über Europa? Oder sind alle in den Ferien? Die EU-Osterweiterung gab seinerzeit Anna Badora, der Nochintendantin des derzeit recht erfolgreichen Düsseldorfer Hauses den Anstoß, prominente osteuropäische Autoren mit Stücken zum Thema Europa zu beauftragen.

Drei Uraufführungen waren lange vor dem Festival produziert und zeigten schon einen deutlichen Trend zum Decrescendo. „Nacht“ von Andrzej Stasiuk, eine deftige „slawo-germanisch-medizinische Tragikfarce“ über deutsch-polnische Vorurteile, wurde noch allgemein goutiert, Juri Andruchowytschs „Orpheus, illegal“ über einen fiktiven Kulturhelden der Revolution in Orange fand bereits ein eher gemischtes Echo. Jáchym Topols „Reise nach Bugulma“ wurde bestenfalls noch flau aufgenommen.

Den drei Debütanten im Bühnenfach ist die als typisch osteuropäisch beschriebene Vorliebe für Groteske und Farce gemeinsam und ein Hang zum groben Holzschnitt. Sehnsüchte des Ostens und Ängste des Westens verdichten sich in düster-komischen Szenarien, deren Unterhaltungswert den Erkenntnisgewinn übersteigt. Die Hoffnung auf tiefere Einsichten in das hoch komplexe, instabile und noch immer nur behauptete System Europa musste sich also auf die Begegnungen des Festivals vertagen. Womöglich aber ist der Anspruch an das Theater als Ort höherer Einsicht hoffnungslos westlich – oder sogar deutsch, denn die Summe des Festivals besteht in verwirrender Ergebnislosigkeit.

Neben den vorhandenen Produktionen gab es eine weitere Düsseldorfer Uraufführung und vier europäische Gastspiele. Lässt man „European House“, einen stummen Prolog zu Shakespeares „Hamlet“ aus Barcelona und „La Gatta di Pezza“ aus Palermo, ein Stück über sizilianisches Elend einmal außer Acht, beschreiben allein die Gastspiele aus Krakau und Budapest die denkbar größte Gegensätze.

Der junge polnische Autor und Regisseur Jan Klata gilt schon nicht mehr als echter Geheimtipp, denn die Furore, die er als Vertreter der sich als die „neuen Unzufriedenen“ bezeichnenden Künstlergeneration in Polen entfachte, hat sich herumgesprochen. Klatas Dramatisierung von Philip K. Dicks Science-Fiction-Thriller „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ kritisiert die osteuropäische Variante des Turbokapitalismus und stellt in einer überraschenden Wendung die hierzulande beinahe naiv wirkende Frage nach der Metaphysik. Punkmusik und barocke Koloraturen grundieren Klatas in harten Schnitten inszeniertes Stück, das den Ausweg aus Drogenrausch und der Hölle der Konsumabhängigkeit ganz unverhohlen in einer katholisch sprechenden Religiosität findet. Darin unterscheidet sich der gern als „polnischer Castorf“ apostrophierte Klata deutlich vom Original, nicht jedoch im zornigen Furioso seines Tempos.

Aus Budapest kam schließlich eine zunächst aufregende, dann ermüdende Dramatisierung von Kafkas „Prozess“. Viktor Bodó und András Vinnai haben aus Kafkas mysteriösem Stoff eine atemlose Revue gemacht, die mit dem Entsetzen Spaß treibt. Die Bühne ist eine lange, sich nach hinten verjüngende Röhre, die mit unzähligen Türen, Schubladen und Klappen versehen ist. Ein artistisch geschultes Ensemble bespielt in einer Art verzweifelter Raserei dieses Mobiliar und gewinnt Kafkas beklemmender Vision eine skurril-böse Komik ab. In trommelndem Stakkato wechseln Szenen brutaler Gewalt mit Musicaleinlagen, auf Folterung folgt Charleston. Die Hauptfigur Josef K. versickert im sich hinziehenden Verlauf mehr und mehr in den Lärm des Geschehens, was zwar kalkulierte Absicht, aber schließlich erlahmender Effekt ist.

Großer Jubel vom kleinen Publikum für die virtuose Truppe beendete das ehrenwerte und in der hinterlassenden Ratlosigkeit letztlich wohl doch aufschlussreiche Festival. Die nächste Station der U.T.E-Gastspiele wird Frankfurt am Main sein.