Absolutely crap, I love it!

Neben einer Menge konventioneller Sozialdramen erzählt das diesjährige Filmfestival „britspotting“ auch betörende Geschichten über Feenstaub, Beatniks und Boulevard

Wenn die Mama Gutenachtgeschichten erzählt, gehören kleine Mädchen ins Bett. Für die fünfjährige Tochter der Taxifahrerin Jane allerdings muss der Rücksitz reichen. Während Jane einen Dealer auf seiner Verkaufstour durchs nächtliche Edinburgh fährt, erzählt sie ihrem Kind Geschichten, von Prince Charming, den schwarzen Zauberern und dem Magic Fairy Dust genannten Zauberpulver. Damit die kleine Alison nichts mitbekommt, wird der Drogenhändler zum Prinzen, sein weißes Pulver zum Feenstaub und die Polizei zur finsteren Armee böser Magier.

„Night People“ von Adrian Mead, einer der Höhepunkte des diesjährigen „britspotting“-Festivals, porträtiert vier Menschen in Krisensituationen: Neben Jane ist da der junge Priester Matthew, dem eine Obdachlose klar macht, dass Nächstenliebe auch bedeuten kann, sich über Dogmen hinwegzusetzen. Der zehnjährige David ist auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater und wird dabei von einem Strichjungen beschützt. Stewart schließlich kommt auf die brillante Idee, einen Chow-Chow aus einem Auto auf einem – leider überwachten – Parkplatz zu stehlen, und kann deshalb seine Tat zwei Stunden später im Fernsehen bewundern.

Neben diesem wunderbaren Film, der aufgrund seiner zeitenthobenen Schwerelosigkeit an Jim Jarmuschs „Night on Earth“ erinnert, gibt es bei der siebten „britspotting“-Auflage jede Menge typisch britischer Sozialdramen zu sehen: Das Spektrum der desolaten Zustände reicht dabei von Arbeits- und Obdachlosigkeit über Menschenhandel und Zwangsprostitution bis hin zu Alkoholismus, Heroin- und Cracksucht.

Thematisch fernab vom Mainstream, ähneln sich viele Filme in ihrer geradlinigen Machart, verlassen sich auf eine starke Story und akkurat gezeichnete Charaktere, beschreiten dabei aber nur selten wirklich neue Wege. Man vermisst ein wenig die schnellen Schnitte, die komischen Dialoge, ja die Aggressivität, die Klassiker des neueren britischen Kinos wie „Trainspotting“ – immerhin Quasinamenspate des Festivals – oder „Lock, Stock and Two Smoking Barrels“ auszeichnen.

Sehr sehenswert wiederum ist der Dokumentarfilm „Leaving Home, Coming Home“ von Gerald M. Fox, der – mal in Farbe, mal in Schwarz-Weiß – den amerikanischen Fotografen und Filmemacher Robert Frank porträtiert, zu dem Jack Kerouac einmal voll Bewunderung sagte: „You got eyes!“ In den Film sind die grandiosen Aufnahmen seiner Fotoserie „The Americans“ hineinmontiert. Freimütig bekennt Frank, keinem Konzept zu folgen und eigentlich nie Ideen zu haben. Stattdessen warte er einfach die magischen Momente ab, in denen sich alles wie von selbst zusammenfügt – und drücke dann den Auslöser. Seine Filme, denen die zweite Hälfte der Dokumentation gewidmet ist, zeigen die Beatnik-Autoren Kerouac, Ginsberg oder Corso auf Lesungen und privat. „Leaving Home, Coming Home“ ist ein ruhiger und bewegender Film, durch den man nicht nur den Künstler, sondern auch den Menschen Robert Frank kennen und schätzen lernt.

Das Changieren zwischen farbigen und schwarz-weißen Bildern hat „Leaving Home, Coming Home“ mit der zynischen Mediensatire „Rag Tale“ der irischen Filmemacherin Mary McGuckian gemein, in der eine beeindruckende Jennifer Jason Leigh die weibliche Hauptrolle spielt. Es geht um ein Londoner Revolverblatt, dessen Mitarbeiter sich mit allen gängigen Boulevardmitteln bekämpfen: Man lügt, betrügt, spioniert und drischt gnadenlos mit Phrasen aufeinander ein.

Der Krieg um den Posten des Chefredakteurs zwischen Eddy (Rupert Graves) und MJ (Leigh) ist eine höchst einfallsreich inszenierte Bild-und-Klang-Collage, die zeigt, was für wirkungsvolle Effekte mit schnellen Zooms und genau getimten Schnitten erzeugt werden können. Sprache und Geräusche erinnern in ihren rhythmisierten Überlagerungen an ein Hörspiel und ergeben zusammen mit den hochstilisierten Bildern ein die Sinne gleichermaßen betörendes wie betäubendes Spektakel: Eine satirische Montage der bösartigen Fratzen des noch viel böseren Boulevardjournalismus. „Rag Tale“ ist die mit Lust komplett überzogene Bestätigung des Sartre-Diktums, dass die Hölle immer die anderen sind. Um es mit dem Herausgeber des Blattes, Richard Morton, zu sagen: „Absolutely crap, I love it!“

ANDREAS RESCH

„britspotting 07 – British and Irish Film Festival“, 20.–26. 4. in den Kinos Acud, filmkunst 66 und fsk am Oranienplatz