Bis zu 60.000 Tote erwartet

Ein Experte versucht die Opferzahlen von Tschernobyl zu kalkulieren: Anhand der „Kollektivstrahlendosis“ in einer bestimmten Region

BERLIN taz ■ Eine Krebserkrankung oder einen Herzinfarkt kann man auch ohne Radioaktivität bekommen. Deshalb ist es unmöglich, einen individuellen Kranken eindeutig als Opfer von Tschernobyl zu identifizieren. Um die Zahl der Toten zu berechnen, muss stattdessen die Gesamtbevölkerung und ihre kollektive Belastung betrachtet werden: Wie viele Menschen haben wie viel Radioaktivität abbekommen? Und welche Dosis wirkt bei wie vielen Menschen tödlich?

Langfristige Erfahrungen gibt es bisher nur aus Hiroschima und Nagasaki. Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) hat 1990 aus den dort gesammelten Daten versucht abzuschätzen, wie viele Menschen bei einer bestimmten Kollektivdosis vermutlich über kurz oder lang an Krebs sterben. Das Ergebnis: Pro Sievert sind fünf Prozent Tote zu erwarten. In diesen Wert einbezogen hat die ICRP bereits, dass hohe Konzentrationen wie in Hiroschima und Nagasaki vermutlich stärker krebsauslösend wirken als eine niedrigere Dauerbestrahlung.

Einen ungefährlichen Grenzwert gibt es nach Ansicht fast aller Strahlenschützer aber nicht. Und zu dramatisch ist der ICRP-Wert wohl auch auf keinen Fall: Schließlich rechnet die Akademie der Wissenschaften in den USA in einer aktuellen Studie sogar mit einer siebenprozentigen Todesfallrate pro Sievert, wenn die Menschen einer permanenten Niedrigstrahlung ausgesetzt sind. Die für Atomstrahlung zuständige UNSCEAR rechnete zwischenzeitlich sogar mit elf Prozent.

Der Physiker und Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, hat die Annahme der ICRP mit der radioaktiven Belastung verknüpft, der die Bevölkerung im Umkreis von Tschernobyl ausgesetzt war. Die Daten dazu stammen aus einem Bericht, den die UdSSR und die IAEA 1986 gemeinsam verfasst haben. Somit wären dort aufgrund der radioaktiven Belastung 120.300 Krebstote zu erwarten.

Der britische Wissenschaftler Ian Fairlie, der im Auftrag der grünen Europaparlamentarierin Rebecca Harms die offiziellen UNO-Berichte aus dem vergangenen Herbst kritisch untersucht hat, verweist auf die Verteilung der Strahlung. Zwar werden die höchsten Konzentrationen in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemessen. Doch die größere Menge der Radioaktivität ist über dem übrigen Europa verteilt worden. Weil dort außerdem die Bevölkerungsdichte größer ist als in der Umgebung von Tschernobyl, liegt auch die Kollektivdosis und damit die durch Tschernobyl zu erwartende Krebsopferzahl höher als in Russland, Weißrussland und der Ukraine – abgesehen von den Katastrophenhelfern.

Diese Berechnungen stammen nicht etwa von irgendwelchen Alternativorganisationen, sondern von der UNSCEAR, dem offiziellen Komitee der UNO für die Effekte von Atomstrahlung. In dieser Organisation sitzen ausschließlich Delegierte von Ländern, die selbst Atomkraftwerke betreiben.

30.000 bis 60.000 Tote sind aufgrund dieser Daten zu erwarten, hat Ian Fairlie ausgerechnet. Herzinfarkte, Fehlgeburten und andere tödlich verlaufende Krankheiten sind dabei gar nicht einberechnet. Selbst wenn WHO und IAEA nur die Daten aus den anderen UNO-Einrichtungen wahrgenommen hätten, hätten sie also zu mindestens sieben- bis fünfzehnmal so hohen Todeszahlen kommen müssen wie in ihrem im September vergangenen Jahres veröffentlichten Bericht.

ANNETTE JENSEN