Der 1. Mai in Kreuzberg
: Eine zweite Chance für die Politik

Es gab mal Zeiten, da lag Berlin weit vorne. Wer etwas über Demonstrationskultur lernen wollte, musste in die Hauptstadt der linken Bewegungen gehen. Doch was die Protestorganisatoren in den vergangenen Jahren am 1. Mai auf die Straße brachten, war nur noch ein schlechte Persiflage altautonomer Rituale. Aktuelle Inhalte waren bei den Berliner Maifestspielen nicht gefragt – bis gestern.

Kommentar von Gereon Asmuth

Weil sich die bisherigen Organisatoren der alljährlichen Latschdemo aufs Altenteil zurückgezogen haben, bekamen die Verfechter des andernorts längst erfolgreich umgesetzten Mayday-Konzeptes endlich auch in Berlin den ihnen gebührenden Platz.

In den vergangenen Jahren ging es am 1. Mai lediglich noch um die Antwort auf die alles überdeckende Frage: Wer schmeißt wann den ersten Stein? Die Antwort blieb gestern ungewöhnlich lange offen. Aber sie war auch zweitrangig. Im Mittelpunkt des Kreuzberger Demonstrationszuges gestern stand stattdessen die Lage einer prekarisierten Generation.

Zu verdanken haben die Mayday-Initiatoren ihren Erfolg auch den Veranstaltern des Kreuzberger Myfestes – und der Polizei. Zwar ist das Myfest als unpolitischer Event verschrien, und der Polizei wird sicherlich niemand Sympathien für die Demonstranten nachsagen. Doch beide zusammen haben durch ihr konsequentes Vertreten des Deeskalationskonzeptes erst ermöglicht, dass es in Kreuzberg am 1. Mai wieder Platz für politische Fragen gibt.

Dank dieses lobenswerten Umgangs mit der Demonstrationskultur liegt Berlin mittlerweile tatsächlich wieder vorne. Die Organisatoren der Proteste hingegen müssen erst noch zeigen, dass sie diese Chance auch in Zukunft kreativ zu nutzen wissen.