Eine Stadt investiert in ihre Zuwanderer

Wenn Berlin nicht weiterkommt in Sachen Integration, mag ein Blick in andere Städte helfen. Basel will Neues ausprobieren in der Integrationspolitik. Statt Defizite zu verwalten, sollen in Zukunft die Potenziale der MigrantInnen stärker gefördert werden

„Die Integrationspolitik kümmerte sich bislang erst um die Leute, wenn die Probleme da sind“

von WALTRAUD SCHWAB

Dass ausgerechnet die Berliner Rütli-Schule in die Schlagzeilen geraten ist, berührt einige Basler sehr. „Rütli, das ist uns wichtig“, sagt Thomas Kessler, seit 1998 Leiter der kantonalen Integrationsstelle „Integration Basel“. Auf dem Rütli, einer Alpenwiese, wurden vor 700 Jahren Grundlagen der Schweiz gelegt, die bis heute aktuell sind: Freiheit. Vielfalt in der Einheit. Gleichheit in der Verschiedenheit.

In Basel wird in Sachen Integration Neues ausprobiert, sagt Kessler. „Die Integrationspolitik, die bis dato betrieben wurde, ist defizitorientiert. Sie kümmert sich erst um die Leute, wenn die Probleme da sind“, sagt Kessler. Defizite sind Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, Sozialhilfeabhängigkeit, Krankheit, Delinquenz. Nehmen diese überhand, wird es für ein Gemeinwesen teuer. Geht es um Geld, werde man in der Schweiz offen für Neues.

Mehr als 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind nicht schweizerischer Herkunft. Über ein Viertel des gesamten Arbeitsvolumens wird in der Schweiz von ausländischen Arbeitskräften erbracht. Im Stadtstaat Basel mit seinen zirka 180.000 EinwohnerInnen haben mehr als 30 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Dabei sind Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien die stärkste Gruppe. Auf sie folgen Menschen aus Italien, Deutschland und der Türkei. Der hohe Migrantenanteil in Basel ist mit Berliner Bezirken wie Neukölln, wo die Rütli-Schule liegt, vergleichbar. Nicht vergleichbar ist die finanzielle Situation der Schweizer Stadt mit der Berlins. Umso wichtiger, dass Ideen, die entwickelt werden, wo es noch ausreichend Mittel dafür gibt, in Berlin endlich Gehör finden.

„Wir stellen die bisherige Ausländerpolitik auf den Kopf. Anstatt defizitorientiert arbeiten wir nun potenzialorientiert. Der Unterschied ist wesentlich.“ Ziel der von Kessler, seinen MitarbeiterInnen und der Basler Universität entwickelten neuen Integrationsvorgabe ist es deshalb, möglichst schnell Chancengleichheit für alle zu erreichen. Voraussetzung dafür: Die Zuziehenden müssen in der Lage sein, in der Landessprache zu kommunizieren und sie müssen Grundinformationen zur Schweiz sowie Zugang zu gesellschaftlichen Strukturen erhalten. Die Kommune ist dafür verantwortlich, dass die Migranten dieses Informations- und Kommunikationsniveau erreichen. „Es gilt zu investieren, statt zu segregieren.“

Damit das rechtlich möglich ist, wurde in Basel ein Leitbild zur Integration implementiert, von dem MigratenvertreterInnen hierzulande träumen. Darin steht etwa, dass Integration mit dem Tag des Zuzugs beginnt und dass beide, die Minderheit und die Mehrheitsgesellschaft, in den Integrationsprozess eingebunden sein müssen. Neu ist der Gedanke nicht. Neu ist, dass ihn sich eine Kommune zu eigen macht und dass sie ihn bis zum Herbst in einem Integrationsgesetz verankern will.

Die Hauptaufgabe der Integrationsstelle war es bisher, für die neue Strategie eine Mehrheit in der Stadt zu schaffen. Sich nach Jahren, in denen man alles laufen ließ, plötzlich gesamtgesellschaftlich für die Integration der Zuziehenden verantwortlich zu fühlen, erfordert die Leute zum Umdenken, erklärt Kessler.

Für die Umsetzung des neuen Integrationsansatzes wurde eine Politik des „Forderns und Förderns“ entwickelt. Die Zuziehenden bekommen die Förderung, die sie brauchen, um sich die Sprache anzueignen, egal wie viel Unterstützung dafür nötig ist. Im Gegenzug fordert die Kommune, dass Zuziehende das Angebot zur Erreichung der Chancengleichheit wahrnehmen. Fordern ist also mehr im Sinne von Herausfordern zu verstehen. Die Integrationsvereinbarung soll, dem neuen Gesetz zufolge, schriftlich zwischen jedem Migranten, jeder Migrantin und der Kommune in einer Vereinbarung geregelt werden und sich zeitlich vor allem an den Aufenthaltsbewilligungen orientieren. Verstoßen Zuziehende gegen die Vereinbarung, kann dies Auswirkungen auf ihren Aufenthaltsstatus haben. Kessler ist überzeugt, dass das funktioniert, weil ein Vertrag eine Abmachung zwischen Partnern ist.

Der Leiter der Integrationsstelle weiß, dass die neue Herangehensweise vor allem mit Menschen aufgeht, die ihren Lebensmittelpunkt jetzt nach Basel verlagern. Statistiken zufolge leben in der Stadt jedoch auch mehrere tausend nicht oder kaum integrierte Menschen, die vor Jahren in die Schweiz kamen. Auch mit ihnen werden Integrationsverträge angestrebt. Über Schulen und Gesundheitsämter tritt man an sie heran. Benötigt etwa eine Frau beim Arzt eine dritte Person, um sich zu verständigen, ist das ein Hinweis, dass sie Integrationsförderung braucht.

Weil Chancengleichheit zudem die Gleichheit zwischen Männern und Frauen meint, müssen, wie Kessler betont, Frauen besonders gefördert werden. Schon deshalb, weil erwiesen sei, dass der Stellenwert der erziehenden Person nachhaltig bestimmt, wie die Erziehungsgrundsätze bei den Kindern verankert sind.

Um nicht integrierte Mütter zu erreichen, gibt es in Basel etwa das Programm „Lernen im Park“. Frauen werden dabei auf Spielplätzen direkt angesprochen. Den Sommer über haben sie die Möglichkeit, Deutsch- oder Alphabetisierungskurse unter freiem Himmel zu besuchen.

Investition in die Kinder und Mütter ist zentral. Denn Probleme der Jugendlichen, wie sie sich nun in Berlin oder in Paris manifestieren, wurden in der frühen Kindheit gelegt, so Kessler. Frühförderung ist weit weniger kostenintensiv, als später Psychologen, Soziologen oder Polizisten in die Schulen zu schicken oder gar neue Gefängnisse zu bauen.

„Nicht reparieren, investieren.“ Was in Berlin jetzt an Sozialarbeitern und Unterstützung schnell an die Rütli-Schule geschickt wurde, müsste stattdessen dauerhaft als Ressource in die Bildung fließen, meint Kessler. Mehr Lehrer, kleinere Klassen. Verbrauchte Lehrer müssten versetzt werden. Die Motivation der Jugendlichen, sich in der Gesellschaft einzubringen, müsse gestärkt werden. „Die Arbeitslosigkeit schnell zu beeinflussen, mag schwierig sein. Mit welchen Chancen die Jugendlichen in die Arbeitswelt entlassen werden, kann sofort beeinflusst werden.“

Als Anfang April der Entwurf des Integrationsgesetzes Kommunalpolitikern sowie VertreterInnen von Schulen und Vereinen vorgestellt wird, regt sich kein Widerspruch. Zu neu ist der Denkansatz. Erst am Ende der Veranstaltung meldet sich ein türkischstämmiger Mann. Welchen Zugang zur Schweizer Gesellschaft man denn habe, wenn man Deutsch spreche, fragt er. Mit Deutsch seien die Türen der Schweizer doch nicht offener. Das mag sein, wendet jemand ein. Aber die Voraussetzung, um sich einzubringen, sei gegeben.