Die Zeit mit Mister Cage

AUS HALBERSTADT THOMAS GERLACH
UND ROLF ZÖLLNER (FOTOS)

Wann hat der Herrgott eigentlich die Töne erschaffen? Er hat Himmel und Erde gemacht, Sonne und Sterne, Tag und Nacht, Bäume und Gräser, die Vögel am Himmel und die Fische im Wasser und zum Schluss den Menschen. Aber die Musik? Wann ist die Musik in die Welt gekommen? So eine Frage ist nach Margot Dannenbergs Geschmack. Sie wird sie in ihrem Herzen bewegen – die nächsten 633 Jahre. Hoffentlich noch etliche Jahre in Halberstadt in Sachsen-Anhalt, dann aber im Himmel, im Jenseits. Vermutlich wird sie dort John Cage treffen und das wird herrlich sein.

„Nach allem, was man so kennt, muss er ein wunderbarer Mensch gewesen sein. So tolerant.“ Margot Dannenberg steht in St. Burchardi vor einem Plexiglaswürfel, der ein Holzgerüst umschließt, drin hängen sechs Orgelpfeifen, die beständig tuten. Der Besucher an Frau Dannenbergs Seite wiegt nachdenklich sein Haupt, doch er schweigt. Warum jetzt Zweifel säen? Hier vor dem kleinen Gerät, das zu einer Orgel anwachsen soll und das einen Klang von sich gibt, der so ziemlich alles überdauern wird, was der Welt heute bedeutsam erscheint, soll man nicht kleinlich sein.

Die Pyramiden von Gizeh, die Chinesische Mauer und die Steine von Stonehenge werden St. Burchardi wohl überdauern. Die Wolkenkratzer aber, die Fußballstadien, Einkaufszentren und die vielen anderen Eitelkeiten, die diese Zeit hervorbringt, sind zu klein, um vor den Jahrhunderten zu bestehen.

„Es ist sehr unspektakulär, trotzdem hat es was Ergreifendes“, sagt Margot Dannenberg. Der Mann nickt. „Ein Stück ist permanent im Entstehen und übersteigt die eigene Lebenszeit“, sagt sie und erzählt dann von der Familie aus Belgien, die eine Woche in Italien war und eigens wegen Cage über Halberstadt nach Hause fuhr. „Die ging auch relativ begeistert raus.“ Nun entspinnt sich ein Gespräch, fallen die Namen von Olivier Messiaen und Merce Cunningham. „Ach, Sie werden Cunningham treffen?“, fragt Frau Dannenberg, legt die Fingerspitzen aufeinander und schaut gespannt den Besucher an. Dazu spielt „Organ2 ASLSP“ von John Cage.

Das wirklich Große kommt klein daher. Jesus kam auf einem Esel nach Jerusalem geritten, und der Klang, der die Jahrhunderte durchziehen wird, geht fernab der Konzertsäle aus der Klosterkirche St. Burchardi hervor; bald 800 Jahre steht es, die letzten zwei Jahrhunderte war es Brauhaus und Schweinestall. Kein hoch bezahlter Maestro besorgt hier das Konzert, sondern die 56-jährige ehemalige Sekretärin Margot Dannenberg aus Wegeleben bei Halberstadt. Sie trägt Pailletten auf dem T-Shirt und lässt beim Lachen ihren Goldzahn leuchten, er leuchtet oft.

1.000 Euro für die Ewigkeit

Margot Dannenberg wischt den Staub vom Blasebalg und harkt den graublauen Schotter, der den Boden der Kirche bedeckt, sie lässt die Gäste ein, die immer häufiger anklopfen. Vor allem aber spitzt sie jeden Morgen auf dem Klosterhof die Ohren, ob der Klang noch da ist, dann schließt sie die Kirche auf und kontrolliert den verborgenen Schalter am Blasebalg, ob das grüne Lichtlein brennt. Wenn nicht das grüne, sondern das rote brennte, hätte der erste Elektromotor seinen Geist aufgegeben, der zweite pumpte die nötige Luft in die Orgel. Noch ist es nicht so weit. Doch alles hat seine Zeit, auch ein Motor.

Gerade hat Klaus Herre seine Zeit. Der Metallkünstler und Schmied aus Halberstadt schweißt eine Eisentafel an den Träger, der an der Mauer entlang läuft. Der Lichtbogen flackert, Qualm steigt auf – wieder ist ein Mensch verewigt, zumindest für 633 Jahre. Bekannte und Unbekannte, Verstorbene und noch Lebende haben Metallplatten gekauft, um darauf eingraviert ihre Freude, ihre Weisheiten oder doch wenigstens ihren Namen mitzuteilen. Sie haben mindestens 1.000 Euro gezahlt, damit man sie in den nächsten sechs Jahrhunderten nicht ganz vergisst. Das Geld kommt dem Projekt zugute, die Tafeln wirken wie Grabplatten vor der Zeit.

„Der Kaffee ist fertig!“ Evelyn Lobe kommt mit einer diesseitigen Botschaft in die Kirche. Am Morgen hatte sie sich als „rechte Hand von Frau Dannenberg“ vorgestellt. Die 50-Jährige war bis zur Wende Sekretärin beim Rat des Kreises Halberstadt. Frau Lobe wurde Frau Dannenberg vom Arbeitsamt als Mitarbeiterin zugewiesen. Sie teilen sich die Aufgaben, so gut es geht, dazu kommen noch vier Honorarkräfte für Führungen. Evelyn Lobe weiß auch schon einiges über John Cage: dass er das Werk 1987 komponiert hat, dass der erste Teil 71 Jahre währen wird und dass eines der acht Stücke wiederholt werden soll. Manchmal hält sie inne, überlegt und sagt dann: „Sie weiß es besser.“ Dabei zeigt sie mit der Hand in die Richtung, wo sie Margot Dannenberg vermutet.

Wie Vestalinnen hüten die Frauen die Aufführung. Es gibt den Komponisten, es gibt die Väter des Projekts, weit gereiste Journalisten, die Orgelbauer aus Kevelaer und Halberstadt, es gibt die Herrschaften aus dem Rathaus, es gibt die Verächter und diejenigen, die dem Projekt rettungslos verfallen sind. Und es gibt Margot Dannenberg.

Sie erzählt von Ryan, Student der Religionswissenschaften und Philosophie an der Harvard-Universität – auch einer, der sich Cage verschrieben hat. Der bettelte so lange, bis er in St. Burchardi übernachten durfte. „Diese Leute sind was ganz Besonderes, weil man mit ihnen gut philosophieren kann“, sagt Frau Dannenberg. Ryan habe in jener Nacht ganze Hefte voll geschrieben.

Philosophieren, fragen – St. Burchardi und die monotone Musik laden dazu ein. Wer hätte gedacht, dass Margot Dannenberg einmal an so etwas mitwirken würde? Andere kommen von Amerika herüber, um für ein paar Stunden das zu erleben, was Margot Dannenberg fast täglich um sich hat. „Es ist das Interessante, was diese Tätigkeit ausmacht“, sagt sie, es klingt ausnahmsweise fast gehemmt. Neun Jahre war sie Sekretärin im Betonwerk, dann in der Möbelfabrik. Nach der Wende bei einem Spegditeur, dann bei einem Großhändler, dann wurde sie arbeitslos. Und dann erfuhr sie vom Cage-Projekt.

Sie kaufte sich dicke Zeitungen, verschlang alles zu Cage, las „Tosende Stille“, eine Biografie, und kaufte CDs. Dann kam der Anruf vom Arbeitsamt. Ob sie an einem „Langzeitprojekt“ interessiert sei, förderungsfähig für Frauen ab fünfzig? Man solle Buchhaltung machen und außerdem ein bisschen reden können. Vielleicht war es Zufall, dass das Arbeitsamt sie anrief, vielleicht war ihr Talent aufgefallen. Auf jeden Fall war es Fügung. So fand Margot Dannenberg am 1. Januar 2001 zu John Cage.

Das „Langzeitprojekt“ im Sinne des Arbeitsamtes ist schon wieder vorbei. Zurzeit erhält sie von der John-Cage-Stiftung 165 Euro im Monat zusätzlich zum Arbeitslosengeld. Hingabe kann man dafür nicht erwarten, Überstunden auch nicht. Margot Dannenberg gibt viel mehr. Sie hat auch einen Text verfasst: „Wenn es nicht Musiker wie Cage gäbe, wäre Musik längst schon zur reinen harmoniesüchtigen Unterhaltung verkommen und damit ein Konsumartikel – mehr nicht!“ So endet ihre Niederschrift. Es klingt wie ein Manifest. Kaum zu glauben, dass sie noch Abba und Phil Collins hören mag, wie sie es früher getan hat.

Wenn Margot Dannenberg von Cage redet, zeigt ihr Finger oft nach oben. Er hört zu. Hier in Halberstadt lebt er weiter. Tausend Jahre sind vor Gott wie ein Tag und 639 Jahre wie ein Lied. Es ist wie Musik zu einem Psalm. Margot Dannenberg ist katholisch wie ihre Mutter und ihre Großmutter und so wie das Kloster St. Burchardi bis zu seiner Auflösung 1808. Neulich war sie im Petersdom in Rom, sah das ganze Gold und den Marmor und dachte an ihr graues Kirchlein, wo die Musik spielt.

Stunde der Repräsentanten

„Hallo, guten Tag! Ich bin die Frau Dannenberg, ich freu mich!“ – „Ja, wir sind die Müllers, wir sind auf Familientreffen in Halberstadt.“ Schon beginnt Margot Dannenberg mit möglichst schlichten Worten, die Müllers für John Cage zu begeistern. Die Tür schließt sich, Frau Dannenbergs helle Stimme ist aus dem Wimmern der sechs Pfeifen herauszuhören: „Langzeitprojekt … wunderschöner D-Dur-Akkord … Vorstellung von Langsamkeit“. Hinter der Kirche mähen zwei Jugendliche die Wiese, die Mäher knattern. Es soll alles akkurat aussehen, wenn die Gäste kommen.

Zur Klangumstellung heute Nachmittag wird die Kirche voll sein. Margot Dannenberg wird sich mit Evelyn Lobe um die Getränke kümmern, den Weg zur Toilette weisen und im benachbarten Herrenhaus den Raum für die Gründung der John-Cage-Akademie herrichten. Ein Staatsminister und ein Professor werden um 15.45 Uhr zwei Pfeifen herausziehen. Gewiss eine wichtige und noble Aufgabe.

Doch was wissen die beiden Herren von der allmorgendlichen Sorge der Frau Dannenberg, dem grünen Lichtlein am Blasebalg, der überstandenen Taubenplage und der Dame mit den empfindsamen Ohren aus der Nachbarschaft, die um ein Haar das Musikstück mit einer gerichtlichen Verfügung vor der Zeit beendet hätte? Sie ist übrigens die Einzige, die Margot Dannenberg hinauswerfen musste. Das mit den Ohren mag man verstehen, aber deswegen ausfällig werden? Ihretwegen gibt es jetzt diesen Plexiglaskasten, der leider den Klang beeinträchtigt – so lange, bis irgendwann das Geld für schalldichte Fenster beisammen ist.

Alles hat seine Zeit. Die Beatles und Abba und Phil Collins, selbst Bach mag einmal vergessen sein. Manches dauert 639 Jahre, manches ist schnell vorbei, so schnell, wie die Kastanie auf dem Klosterhof verblüht. Leider. Am 31. Mai läuft Evelyn Lobes 1-Euro-Job aus. Dann steht Margot Dannenberg wieder ziemlich allein da, sie – und John Cage.