Gegen die Polizei Gottes

Werteerziehung brauchen derzeit vor allem diejenigen, die die Werte in den Himmel entrücken – also Bundesregierung und christliche Kirchen. Ein Plädoyer, die Menschen als mündig zu begreifen

VON ULRICH RUSCHIG

Werte sind in Gefahr. Die Bundesregierung lädt zum Gipfel von Staat und Kirche nach Berlin und verkündet anschließend das Bündnis für Werte: Werteerziehung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes. Denn „unsere Werte“, so beschwören es einhellig die Bündnispartner, wurzelten im Christentum.

Warum sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf? Warum ein Gipfel? Der Zerfall der Werte ist spürbar, unlängst drastisch vor Augen geführt von den Lehrern der Rütli-Schule. „Arm, aber anständig“ funktioniert nicht mehr; renitente Kinder ohne Unterordnungsbereitschaft lassen Lehrer kapitulieren. Wenn auch die Polizei auf Dauer nicht hilft, soll es die Werteerziehung richten, und zwar eine solche, als deren Grundlage der Staat das christliche Menschenbild ermächtigt. Letzteres gründet in der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und damit im christlichen Gottesbild. Im Gottesbild allerdings unterscheiden sich die Religionen; wenn aus dem Gottesbild Werte abgeleitet werden sollen, unterscheiden sich die so abgeleiteten Werte eben auch.

Dem Zerfall der Werte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit korrespondiert der Zerfall bei der Begründung der Werte. Genau dies macht – paradoxerweise – Frau von der Leyen sich zunutze, wenn sie just den Kardinal und die Bischöfin mit der Werteerziehung betraut. Die Rede, „unsere Werte“ wurzelten im Christentum, enthält nämlich eine bemerkenswerte Ambiguität. Verstünde man unter Christentum lediglich ein religiöses System, das seinerseits im Judentum und in antiker Philosophie (Platon) wurzelt und das in seiner Geschichte mit vielerlei religiösen und philosophischen Systemen wechselwirkte, so müsste man alle diese anderen Quellen intellektuell zulassen und dürfte weder Kardinal noch Bischöfin privilegieren.

Die Werte-Gipfel-Teilnehmer verstehen unter Christentum jedoch, dass eine säkulare Begründung des Werts des Menschen wie auch eine Begründung aus einem anderen Gottesbild unzureichend seien, dass der oberste Wert, die Menschenwürde, dem Menschen von Gott geschenkt werde und dass, weil des einzelnen Menschen Anstrengung an sein Gottesgeschenk prinzipiell nicht heranreiche, die Schlüsselgewalt über Begründung und Vermittlung der Werte in die Hände der Kirche gehöre.

Man erwäge für einen Moment die Alternative: Die Menschen sind mündig; sie sind fähig, sich ihrer Vernunft ohne Leitung eines anderen, und sei es des höchsten Wesens, zu bedienen; sie können also aus ihrer Vernunft heraus einen fundamentalen Wert wie die Menschenwürde begründen. Wenn die Mündigen auf diese ihre Begründungsfähigkeit reflektieren, kommen sie darauf, dass ihre Vernunft im Widerspruch steht zu den Bedingungen für ihr Handeln, bestimmter: die Jugendlichen der Rütli-Schule, wenn sie über ihre (mögliche) Moralität nachdenken, kommen darauf, dass ihre Verzweiflung objektiven Bedingungen sich verdankt – im Bereich Neukölln leben 40 Prozent unter der offiziellen Armutsgrenze; eine Besserung der Lebensbedingungen ist bei Beibehaltung der herrschenden politökonomischen Gesetze ausgeschlossen. Jugendlichen ist jegliche Hoffnung genommen, aus dem elenden Leben, das sie täglich erfahren, entrinnen zu können; sie sind Gesellschaftsverlierer, ob sie die Hauptschule schaffen oder nicht. Nähmen sie ihre Menschenwürde ernst, würden sie an den menschenunwürdigen Bedingungen irre.

So verstärkt gerade das Nachdenken über Moralität die Verzweiflung, systematisch: Die Reflexion auf die Moral setzt dieselbige in den Widerspruch zu den nichtmoralischen Bedingungen für die Verwirklichung der Moral. Eine solche Werte-Reflexion fürchtet die Bundesregierung wie der Teufel das Weihwasser. Deswegen erneuert und erweitert sie das Bündnis mit den Kirchen; deswegen wird die Reflexion auf die Werte von dem Nachdenken über die Bedingungen für das Handeln gelöst; deswegen wird der Grund für die Werte in das transzendente Wesen Gott, eine uns letztlich fremd bleibende Instanz, platziert.

In der Verrätselung der Werte-Ableitung liegt gerade der politische Nutzen für die Bundesregierung. Die Kirchen verweisen die im irdischen Jammertal Gefangenen auf das unbegreifliche Jenseits und leisten damit ein Doppeltes: a) Dort, wo die Berliner Polizei aufhört, das Neuköllner Ghetto zu disziplinieren, und überfordert ist, die in demselben erzeugte Gewalt nicht nach außen dringen zu lassen, fängt die göttliche Polizei an, das irdische Ghetto insgesamt dagegen zu sichern, das Reich Gottes auf die Erde zu verlegen. b) Die Kirchen versorgen die Erniedrigten, Verlassenen, verächtlich Gemachten und an der Objektivität Verzweifelnden mit dem Opium der Vorspiegelung transzendenten Glücks – illusionäre Kompensation für das entgangene irdische Leben.

Wahre Moralität begänne überhaupt erst, wenn jener Widerspruch zum Ausgangspunkt von Denken und Handeln gemacht wird. Werteerziehung sollte zuvörderst den Pharisäern angediehen werden, und zwar denen, die die objektiven Bedingungen als amoralische geschaffen haben, und denen, die die Werte in den Himmel entrücken, damit deren Negation in den objektiven Bedingungen nicht erkannt werden soll.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und bildet dort Lehrer für das Schulfach „Werte und Normen“ aus