Die Gebildeten fliehen aus dem Irak

Aus Angst vor Entführungen und Morden sind tausende Ärzte und Akademiker aus dem Zweistromland geflohen. In Bagdad werden täglich zehn Menschen verschleppt. Wer gegen eine Zahlung von Lösegeld wieder freikommt, hat Glück gehabt

AUS ERBIL INGA ROGG

Doktor Ithar Ismail ist keine Frau, die sich schnell geschlagen gibt. Mit einer gehörigen Portion Energie ausgestattet und ihrem verbindlichen Auftreten hat es die 40-jährige Pharmazeutin geschafft, sich im Gewirr der irakischen Geschäftswelt einen eigenen Platz zu verschaffen. Nach dem Studium hatte sie eine kleine Apotheke in Bagdad eröffnet und stieg später als Mitarbeiterin eines lizenzierten Händlers in den Medikamentenimport ein. Als nach dem Sturz Saddams die Handelsbeschränkungen weitgehend fielen und neue Pharmakonzerne ihre Fühler auf den irakischen Markt ausstreckten, sah sie ihre Chance gekommen, sich im Arzneimittelimport selbstständig zu machen.

Der Anfang lief gut. Die Geschäftsfrau konnte zwar keinen der ganz großen Aufträge an Land ziehen, aber sie war zufrieden. Deshalb ließ sie sich zunächst auch nicht von den Gewalttätigkeiten in ihrem Stadtviertel einschüchtern. Zwar fürchtete sie die Bombenanschläge und die ständigen nächtlichen Schießereien raubten ihr den Schlaf. Wie so viele Hauptstädter glaubte Ismail aber, dass der Spuk bald vorübergehen werde. Sie setzte auf ihre persönliche Gegenstrategie, die vor allem darin bestand, sich gewissermaßen unsichtbar zu machen. Zuerst gab sie die Restaurantbesuche mit Freundinnen und Freunden auf, dann verzichtete sie auf das Auto.

Indem sie versuchte, sich möglichst unauffällig zu bewegen, hoffte Ismail auch der Gefahr einer Entführung zu entgegen, die sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur zu einem kriminellen Wirtschaftszweig, sondern auch einer politischen Waffe entwickelt hat. Tausende Iraker fielen seit dem Sturz von Saddam Hussein Entführungen zum Opfer. Bis zum Dezember 2005 stieg die Zahl nach einer Schätzung des Innenministeriums allein in Bagdad auf zehn pro Tag. Neben Geiselnahmen zwischen verfeindeten Familien und Lösegelderpressungen von Wohlhabenden zielen die Kidnapper vor allem auf Ärzte und Akademiker.

Noch heute wird es der Pharmazeutin bang, wenn sie an die Verschleppung ihrer Freundin Atyaf denkt. Die bekannte Gynäkologin sei im vergangenen Juli am helllichten Tag in Bagdad von mehreren Bewaffneten aus ihrem Wagen gezerrt und nur gegen die Zahlung eines Lösegelds in Höhe von 300.000 Dollar zehn Tage später wieder freigekommen, sagt Ismail.

Viele Iraker sehen in den Entführungen und Morden an Ärzten und Lehrern eine regelrechte Hatz auf die Gebildeten im Zweistromland. Schätzungen von Ärzten zufolge wurden seit 2003 über 250 Mediziner entführt und mehr als 60 ermordet. Allein aus der nordirakischen Unruheregion um Mossul sollen 600 Ärzte geflohen sein. Nach einer Aufstellung von irakischen Wissenschaftlern fielen 105 Universitätsdozenten gezielten Mordanschlägen zum Opfer.

Dabei ist die Gewalt offenbar ungebrochen. Allein in den letzten vier Monaten wurden nach Angaben des Bildungsministeriums 315 Lehrer ermordet. Am 3. 5. stoppten Unbekannte im Bagdader Stadtteil Dora einen Minibus mit Studenten. Scheinbar wahllos griffen sie sich vier Insassen und erschossen sie vor den Augen ihrer Kommilitonen.

Richteten sich die Morde und Entführungen anfangs zu einem gewissen Grad gegen die Kader der früheren Baath-Partei, so sind sie längst ein Teil des unterschwelligen ethnisch-religiösen Kriegs zwischen Schiiten und Sunniten.

Als im November der Urologe Hussein Sharifi in seinem Haus ermordet wurde, gab auch die Pharmazeutin Ithar Ismail auf. Der Arzt war wie sie Schiit. Schon seit längerem hatte sie indirekte Drohungen erhalten, dass Schiiten in dem vor allem von Sunniten bewohnten Stadtteil Amerija nicht mehr erwünscht seien. Ismail packte ihre Sachen und floh nach Amman. In der jordanischen Hauptstadt halten sich offiziellen Angaben zufolge 250.000 Iraker auf, inoffizielle Schätzungen liegen bei bis zu einer Million.

Lange hielt Ithar Ismail es in Amman nicht aus. Vor ein paar Wochen nahm sie das Angebot ihres Bekannten Shirwan Khailani an und kam in die kurdische Stadt Erbil. Khailani ist plastischer Chirurg und hatte in Bagdad eine gut gehende Privatklinik. Ärzte wie er werden in Bagdad mehr denn je gebraucht. Nachdem er mehrere persönliche Drohungen erhalten hatte, gab er auf. Er schloss die Klinik ab und ging. Als Kurde hofft er in Erbil auf eine bessere Zukunft, zumal hier gut ausgebildete Ärzte Mangelware sind.

Während der Arzt das Leben in der kurdischen Provinz lobt, sehnt sich die Geschäftsfrau zurück nach Bagdad. Doch von gelegentlichen Stippvisiten abgesehen, wird auch sie nicht mehr in die Hauptstadt zurückkehren. Vor wenigen Tagen ging ein Drohbrief bei ihrer Schwester ein. Zwei Tage habe sie Zeit, die Gegend zu verlassen, andernfalls treffe sie eine „gerechte Strafe“. Keine 24 Stunden später verließ auch die Schwester die Hauptstadt.