Der neue Flug des Balls

Traditionell wird der Fußball in Argentinien zur Betäubung genutzt. Doch neuerdings liefert er den Rohstoff, um von den Krisen zu erzählen: Das Land debattiert die Militärdiktatur, die WM 1978 und die Rolle des Trainers César Luis Menotti

„Die politische Haltung von Menotti ist noch immer umstritten“

AUS BUENOS AIRES ARIEL SCHER

In einer alten Bar mitten im Zentrum der riesigen Stadt Buenos Aires gibt es einen Mann, auch er alt, der jeden Morgen versichert, dass Argentinien ein Land sei, das vor allem zwei Dinge im Überfluss hervorbringt: Krisen und Sportler. Von den wiederholten Krisen zeugen etliche der dramatischen Umstände in der Geschichte einer Nation, die in vier Jahren ihr zweihundertjähriges Bestehen feiern wird. Von den talentierten Sportlern weiß jedes gute Gedächtnis.

Einige Beispiele, unter vielen anderen, die man aufzählen könnte, sind die größten argentinischen Fußballer Diego Maradona, Alfredo Di Stéfano, Enrique Omar Sívori und aktuell Lionel Messi. Dazu kommen der fünffache Formel-1-Weltmeister Juan Manuel Fangio oder die derzeitige Generation großartiger Tennisspieler, die eine Sportart verbreitet haben, die noch vor kurzem praktisch ausschließlich der ökonomischen Elite Argentiniens vorbehalten war.

Der alte Mann in der Bar wirkt in diesen Tagen ganz schön verbittert. Er sagt, dass sich heute die beiden Dinge, die Argentinien im Überfluss hervorbringt, auf eine Weise miteinander verschränken, dass etwas Neues und Wichtiges entsteht. Seine These: Der Sport ist ein außergewöhnlicher Rohstoff, um von den Krisen zu erzählen. Vor allem von einer, der schlimmsten und der brutalsten aller brutalen argentinischen Krisen: der letzten Militärdiktatur.

Der Mann hat Recht. Zwar gibt es eine ganze argentinische – und nicht nur argentinische – Tradition des Sports als gigantischer Betäubungsmaschinerie für die Massen angesichts der politischen und sozialen Probleme. Doch zurzeit sehen wir andere Signale. Zwischen Schmerz und Massendemonstrationen hat Argentinien gerade den 30. Jahrestag des Beginns jenes brutalen politischen Prozesses zwischen 1976 und 1983 begangen, der, unter anderem, das Verschwinden von rund 30.000 Personen mit sich gebracht hat. Das waren Oppositionelle, Kritiker, Studenten, die den Machthabern gefährlich erschienen. Viele verschwanden für immer.

Es waren keine 30.000, aber doch 10.000, die sich kurze Hosen anzogen und an der „Carrera de Miguel“ teilnahmen, einem Straßenlauf zum Gedenken an Miguel Sánchez. Das war ein Läufer, den eine Verbrechergruppe der Diktatur am 8. Januar 1978 aus seinem Haus entführte und niemals zurückbrachte.

Sánchez war 26 Jahre alt, in einer Bank angestellt und hatte mehr als einen Traum, wie die Welt zu verbessern sei. Seine Geschichte blieb vergessen, bis die Presse sie 1998 wieder ausgrub. Seither ist er zum Symbol geworden. In seinem Namen gibt es Läufe in Rom, in Buenos Aires und anderen argentinischen Städten, wo auch immer mal wieder ein Saal, ein Sportplatz oder eine Bibliothek nach Miguel Sánchez benannt werden. „La Carrera de Miguel“ hatte in diesem Jahr einen Teilnehmerrekord. Viele Läufer trugen T-Shirts mit jener Formulierung, mit der seit je die Epoche des Horrors zurückgewiesen wird: „Nie wieder!“

Einer derjenigen, die mit festem Schritt die zehn Kilometer der „Carrera de Miguel“ hinter sich brachten, heißt Claudio Tamburrini. Er spielte als Torwart bei Almagro – einem Verein, der heute in der zweiten lokalen Fußballliga spielt –, bis er im November 1977 durch eine Mordpatrouille des Militärregimes entführt wurde. Unter Folter verbrachte er vier Monate in einem jener geheimen Haftzentren, die über das große Territorium Argentiniens verstreut waren, bis ihm, zusammen mit drei Compañeros, eine unglaubliche Flucht durch ein Fenster gelang.

Als Philosoph in Schweden lebend, hat er in diesen Wochen tausendmal seine Erfahrung der Angst erzählt, vor Millionen, die ihn im Fernsehen sahen, oder vor hunderten, die ihm in Schulen und Universitäten zuhörten.

In Almagro verliehen sie ihm eine Gedenkmedaille. Und in Ciudadela Norte, einem kleinen Verein im Westen von Buenos Aires, wo der Extorhüter seine Jugend verbrachte, spielte er ein Fußballmatch „für das Leben“, gemeinsam mit Freunden aus der Kindheit, Journalisten, Sportfunktionären und Anwohnern. „Sport ist ein viel zu mächtiges Kommunikationsmedium, um ihn den antidemokratischen Kräften zu überlassen“, sagte ein sehr bewegter Tamburrini am Ende dieser magischen Begegnung, während ihm die Schweißtropfen über die Stirn liefen.

Vielfältige Sportveranstaltungen sind in diesen Tagen der Erinnerung gewidmet. Bücher sind erschienen, die die Lebensgeschichten jener Sportler erzählen, die Opfer der Barbarei wurden, und große Transparente vor dem Beginn der wichtigsten Spiele beim Fußball, Basketball oder Volleyball erinnern an damals. Der Verein Argentinos Juniors, in dem Maradona groß wurde, weihte eine Wandmalerei in seinem Stadion zu Ehren zweier Fans ein, die die Diktatur entführt hatte. Und der Rugby-Verein La Plata rief zu einer Gedenkveranstaltung, um seine tiefste Wunde ins Gedächtnis zu rufen: Die Diktatur hatte 17 seiner jugendlichen Spieler zu Verschwundenen gemacht.

In diesem Zusammenhang fand sich auch Raum, um Gedanken über die Fußball-WM 1978 zusammenzutragen, das größte und wichtigste Sportereignis der argentinischen Geschichte. Die Diktatoren maßen der WM genauso viel Bedeutung zu wie 1982 dem Falkland-Krieg gegen Großbritannien (den sie im Gegensatz zur WM schließlich verloren).

„Sport darf man nicht den antidemokratischen Kräften überlassen“

Für gewöhnlich steht im Zentrum der Rückbetrachtungen jenes Turniers César Luis Menotti, der Trainer, der die argentinische Auswahl zum ersten WM-Titel ihrer Geschichte führte. Weit entfernt vom politischen Diskurs, dessen Pflege ihn auch in Europa zeitweise zu einem Vorzeigetrainer gemacht hatte, beschränkte er sich auf Bemerkungen zum Spiel auf dem Platz: „Diese Erfahrung hinterließ in mir die Freude darüber, dass der argentinische Fußball nicht mehr Sívori oder Di Stéfano war, sondern es schaffte, dass eine Mannschaft mehr respektiert wurde als Individuen“, sagte er.

Fast drei Jahrzehnte nach der WM 1978 steht die Leistung Menottis für die Entwicklung des Fußballs im Land außerhalb jeder Diskussion. Aber seine politische Haltung ist noch immer umstritten. Manche sagen, dass er als Linker den sportlichen Erfolg hätte ausnutzen müssen, um die Verbrechen anzuklagen. Andere nehmen ihn in Schutz: „Während viele Persönlichkeiten es vorzogen zu schweigen, setzte er seine Unterschrift unter Appelle in den Zeitungen, die nach dem Schicksal der Verschwundenen fragten“, sagt Claudio Morresi, Exspieler von River und der Jugendnationalmannschaft.

Sein Bruder Norberto Moresi war 17 Jahre alt, als er – einen Monat nach dem Putsch – von den Diktatoren ermordet wurde. Damals hatte Morresi die WM von der Tribüne aus verfolgt, hin und her gerissen zwischen seiner familiären Tragödie und seiner Fußball-Leidenschaft. Als wäre es eine Fußnote der Geschichte mehr, leitet er heute die staatliche Sportpolitik Argentiniens.

„Ich habe die Weltmeisterschaft damals gesehen“, sagt der alte Mann, der sich jeden Morgen in eines der alten Cafés in Buenos Aires setzt. Und während er über die kommende WM spekuliert und die Hoffnungen Richtung Deutschland, erlaubt er sich vorherzusagen, dass Argentinien wohl auch weiterhin Krisen und Sportler im Überfluss produzieren wird. Aber er glaubt auch, dass Argentinien eine echte Chance hat, gegen das Vergessen ein Tor zu machen. Wenn der Fußball weiter mithilft, die ganze Geschichte zu erzählen.

Übersetzung: Bernd Pickert

Claudio Tamburrini, in diesem Beitrag erwähnt, schreibt im soeben erschienenen taz-WM-Journal („Es ist Liebe“) über seine Verschleppung durch die Militärdiktatur, seine Flucht, die Frage, ob er bei der WM „für Argentinien“ sein konnte – und seine Rückkehr in diesem Frühjahr zu dem Klub, der ihn verriet.