„Ostpartys glorifizieren nichts“

Die Jüngeren sind neugierig auf DDR-Alltagskultur, meint Historiker Lutz Niethammer

taz: Herr Niethammer, welche Defizite gibt es in der Darstellung und Erforschung der DDR-Geschichte?

Lutz Niethammer: Es fehlt an einer Geschichtsaufarbeitung, die für viele Ostdeutsche anschlussfähig ist. Die Geschichtswissenschaft hat sich in den 90er-Jahren sehr auf die Regierungs- und Stasiakten konzentriert. Es gibt auch viel akribische Detailforschung, vor allem über die Ulbricht-Ära und die Wende 1989.

Warum diese Zeiträume?

Historiker sind es gewohnt, nach Aktenlage zu forschen. Die Akten für die Ära Honecker werden immer schlechter. Die DDR ist immer unschriftlicher geworden – nur die Stasi hat immer mehr Papier produziert. Das führt dazu, dass manche Historiker sagen: Zur Honecker-Zeit kann man nicht so richtig forschen, da fehlt das Material. Auch deshalb ist der Erfahrungsraum der Honecker-Ära unterbelichtet.Vor allem die Alltagsgeschichte der Honecker-DDR ist lückenhaft. Und gleichzeitig ist diese Zeit bei vielen aufgefüllt mit DDR-Nostalgie.

Sie meinen, die DDR-Nostalgie ist die Kehrseite einer zu engen historischen Forschung?

Wir müssen feststellen, dass das historische Alltagsbewusstsein der Ostdeutschen und die Geschichtswissenschaft weitgehend unverbunden sind. Viele im Osten denken: Das ist Fremdforschung. Mit unserem Leben in der Diktatur hat das nichts zu tun.

Dafür gab es in der Popkultur ja eine richtige Ostalgiewelle, inklusive FDJ-Blauhemd als Modetextil. Wie deuten Sie das?

Das ist die Ostvariante der Spaßgesellschaft. Wer darin verbissen die Rückkehr der Blauhemden wahrnimmt, übersieht das Ironische, Zitierende. Es handelt sich um eine Wiederaneignung von Alltagsgegenständen, die zu Teufelszeug erklärt wurden. Wenn man Westlern alle Marken ihrer Kindheit entziehen würde, wäre die Reaktion ähnlich. Die Ostparty, bei der Club-Cola getrunken wird, ist eine Mischung aus regionalem Protestverhalten und spezifisch ostdeutscher Spaßgesellschaft. Vibrierender Alarmismus ist da fehl am Platze.

Die Expertenkommission schlägt vor, die Darstellung der DDR über Stasi und staatliche Repression hinaus zu erweitern. Ist das richtig?

Ja. Schon weil viele Jüngere andere, neue Interessen haben. Für die ist die DDR völlig fremdes Gebiet. Viele wollen wissen, wie ihre Eltern und Großeltern gelebt haben. Mit einer Glorifizierung der DDR hat das nichts zu tun. Diese Neugierde auf Fremdes gab es in den 90er-Jahren noch nicht. Damals stand an den Universitäten in der Tat die Stasi im Vordergrund – und zwar so sehr, dass viele Studenten gesagt haben: Bitte nicht schon wieder Stasi.

Nun sind aber einstige Stasikader derzeit aktiv. Wie erklären Sie sich das? Ist das Vorzeichen einer drohenden DDR-Verklärung, wie manche Bürgerrechtler warnen?

Dass Stasigeneräle öffentlich auftreten, ist neu – und natürlich muss man ihren Opfern den Rücken stärken. Das als Zeichen für die Restauration eines geschönten DDR-Bildes zu deuten, ist grob übertrieben. Ich glaube, dass die Stasidebatten oft kurzschlüssig waren. Zuerst erschienen ja die IMs als Hauptakteure, und die Hauptamtlichen waren in einer Art Verschattung. Die öffentliche Debatte war lange sehr schwarz-weiß gemalt, sehr moralisch und personalisiert.

Was ist die Alternative?

Die Stasileute als sozial und kulturell geprägte Angehörige ihrer Apparate zu verstehen. Wir versuchen zum Beispiel in Gera einen Kulturkonflikt zwischen Stasi und Alternativszene, darunter Liedermachern wie Stefan Krawczyk, in den 80er-Jahren aufzuarbeiten.

Wieso ist das ein Kulturkonflikt – und keine staatliche Repression?

Es war beides. Es war auch ein Generations- und Typkonflikt: hier die Alternativen – dort der Typus angepasste, halb militarisierte DDR-Existenz, die sich für das normale, anständige Leben hielt. Diesen Kern muss man freilegen – dann kann man sehen, wie der Repressionsapparat diesen Konflikt, den es so ähnlich auch im Westen gab, gewalttätig löst. Auch im Westen waren in den 80er Jahren ja viele Bürger unglücklich über die alternative Jugend. Kurzum: Es geht nicht darum, die Stasi schönzureden, sondern sie in ihrem Kontext begreifbar zu machen. Es ist falsch und zu simpel, in den Stasileuten nur Marionetten des Regimes zu sehen.

So zeigt es auch der erstaunlich erfolgreiche Kinofilm „Das Leben der anderen“ …

Ja. Der Film schildert die Wandlung eines Stasioffiziers – und das ist gerade keine Entschuldigung. Nur wenn man zeigt, dass sogar im Apparat moralische Entscheidungen möglich waren, gibt es einen Verantwortungsdiskurs.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE