Das Ding an mir

Die Fußfessel war für ihn ein täglich auf zwölf Stunden befristeter Hausarrest

VON HEIDE PLATEN

Michael P., 38, war wieder nach England abgereist. Er wolle es sich noch mal überlegen, ob er über seine Zeit mit Big Brother, sein Leben mit der elektronischen Fußfessel, reden will, fünf Monate, die für ihn „gespenstisch“ waren. Dann ruft er doch an, denn Reden hilft.

Vor 15 Jahren ist Michael P. von Deutschland nach England ausgewandert, der damals dort aufblühenden Ökologiebewegung hinterher. Gärtnerei und alternative Landwirtschaft faszinierten ihn. Heute lebt er im Südwesten, in der Nähe von Bath. England ist ein hartes Pflaster geworden, Geld ist knapp, gesunde Ernährung ein Luxus, die alten Ideale sind aufgeweicht. P.s letzter Job in einer Tofu-Fabrik hat ihn krank gemacht, inzwischen wohnt er in einer Sozialsiedlung. Er kämpft sich durch den Alltag wie die meisten seiner Nachbarn, von der Hand in den Mund, Sozialhilfe, hier und da ein kleiner Job. Er hat sich im Mangel eingerichtet.

Vor einem Jahr begann für ihn, was er zuerst als „Albtraum“ empfand: Er musste fünf Monate mit einer elektronischen Fußfessel leben. Mehrere tausend Straftäter werden in England jährlich zu Electronic Monitoring (EM) verurteilt. Die elektronische Fußfessel dient hin und wieder auch dazu, gewaltbereite Fußball-Hooligans unter Hausarrest zu halten. In Deutschland werden Fußfesseln seit 2000 in Hessen in einem Modellversuch getestet. Die bisher 244 Träger sind sorgfältig ausgesucht, sie werden rund um die Uhr von Sozialarbeitern und Bewährungshelfern betreut. In England hingegen bekam Michael P. keinerlei Betreuung zu spüren, die Fußfessel war für ihn nichts als ein täglich auf zwölf Stunden befristeter Hausarrest, kontrolliert von Big Brother. Die Uhrzeit seines Eingesperrtseins konnte er wählen: entweder von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends oder von zehn bis zehn. Er entschied sich für acht bis acht.

Michael P. fand die Strafe viel zu hoch für das, was als harmlose Ruhestörung begonnen hatte. An einem kalten Dezembermorgen vor anderthalb Jahren hatte er mit seiner Freundin gestritten, ein Nachbar rief die Polizei. Naja, Restalkohol habe er schon noch gehabt und Frust auch. Aber er sei „nur in der Defensive“ gewesen – erst habe er die Freundin abwehren müssen, die auf ihn eingeprügelt habe, dann die Polizei.

Michael P. wirkt wie der Typ sanfter Kiffer, groß, blond, schlaksig, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Seine Waffe ist das Wort – reden, erklären, erzählen bis zum Anschlag. „Ich nerve“, sagte er selbst, „weil ich die Leute immer ohne Ende zulabere.“ Die Polizisten, ein Mann und eine Frau, hätten ihm aber gar nicht erst zugehört, sondern ihn gleich festnehmen wollen. Dagegen habe er sich auch nicht gewehrt, die Polizistin sei ja freundlich gewesen: „Ich habe das erst gar nicht ernst genommen.“ Dann aber habe ihr Kollege ihn angegriffen: „Der hat sich plötzlich auf mich gestürzt. Wollte sich wohl profilieren.“ Er habe sich „nur defensiv verhalten“. Pech, dass ihn das Gerangel in den Polizeiknast brachte. Die Anzeige wegen Körperverletzung folgte umgehend.

Sein Vernehmungsprotokoll liest sich so, dass selbst sein Pflichtverteidiger sich das Lachen nicht verkneifen kann. Da ist die Rede von einem „täppischen Polizisten, der seiner Partnerin imponieren wollte“ und dabei „dreimal über sich selbst gestolpert“ sei. „Ich bin zurückgewichen, aber der hat immer nachgesetzt. Ich habe ihn noch aufgefangen, ich wollte nicht, dass der sich wehtut.“ Blessuren hat der Beamte hinterher nicht vorzuweisen. Dennoch erstattet er Anzeige. In der steht auf einmal etwas von einem Messer, das es, so Michael P., nie gegeben habe, davon, dass er Tisch und Stuhl als Waffe benutzen wollte. Dass er dem Beamten „in die Eier“ getreten habe. „Also echt!“, sagt Michael P. empört, „nichts davon ist wahr.“ Aussage steht gegen Aussage, der Anwalt rät zu einem Deal. Michael P. fürchtet hohe Anwaltskosten und stimmt zu – die Anklage wird auf den Tritt reduziert. Im März 2005 wird er verurteilt, wegen der „Ernsthaftigkeit des Falles“ zu fünf Monaten Haft oder Electronic Monitoring. Er entscheidet sich für EM; noch im Gerichtssaal muss er die Einverständniserklärung unterschreiben. „Sie hören von uns“, hatte es im Gerichtssaal geheißen. Drei Tage saß er auf Abruf „zum Anketten“ bereit.

Dann kamen zwei Leute. „Das war gespenstisch“, beschreibt er die Szene. „Die sagten gar nichts, kamen rein wie Roboter.“ Sie schritten an ihm vorbei, rückten Möbel, packten aus. Als sie gingen, trug er die Fußfessel, und auf seinem Sideboard stand statt des Fernsehers „so ein Radioding, dick, fett, schwarz mit Antenne und einer großen grünen Digitalanzeige“. Das Ding habe ihm „genau ins Gesicht gestarrt“. Neben dem Ding lag eine Broschüre. Schlauer machte die ihn nicht, er erfuhr nur, dass er jetzt „Kunde der Firma Group 4 Securicor“ sei. Und die sei „immer für Sie da“. Ein paar Nächte lang starrte er vom Bett aus auf die Anzeige der Box, den integrierten Telefonhörer, die beiden Knöpfe, einen mit der Bezeichnung „Notruf“, einen für das „Callcenter“. Dann wagte er, sie umzustellen, um seinen Fernseher wieder benutzen zu können: „Ganz vorsichtig, ich hatte ein ungutes Gefühl, das Ding anzufassen.“ Und schon passierte es: „Das Ding fing an zu reden.“ Eine Frauenstimme forderte ihn auf: „Call the Callcenter!“ Dort sagte man ihm dann, er habe das Gerät auf keinen Fall bewegen dürfen. Das sei eigentlich schon ein Bruch des Vertrages, der dem Gericht gemeldet werden müsse und Haft statt Fußfessel heißen könne.

Das Gerät wurde neu justiert „von einem Angestellten, der wenigstens mit mir redete“. Der stellte die Box um aufs Fensterbrett, „sodass man die Gardine davorziehen konnte“. Michael P. war dankbar: „Du willst ja nicht, dass jeder, der zu Besuch kommt, das Ding gleich sieht.“ Ganz nebenbei habe er da auch erfahren, dass er „zwei breaks“, zwei Unterbrechungen, freihabe und beim Gericht auch hätte Ausnahmeregelungen von der Ausgangssperre beantragen können.

Fehlalarme hatte er dann noch drei. Nicht, dass er den Sender auch nur noch einmal angerührt hätte – diesmal war es der Stromausfall. Englands Sozialwohnungsmieter bekommen Gas und Strom nicht einfach gegen Rechnung geliefert, viele müssen die Zähler mit Geld oder einem Magnetschlüssel aufladen. Ist der Betrag verbraucht, geht einfach das Licht aus. Und das passiert nicht selten. Michael P. erklärt, er habe seinen Magnetschlüssel verlegt gehabt: „Da sitzt du dann im Dunkeln und suchst. Da war mir dann schon panisch zumute.“

Nach drei Monaten kam wieder Besuch. Die Firma hatte gewechselt, Box und Fußfessel wurden ausgetauscht. Die neue Box war kleiner: „Auch das Teil am Bein war nicht so groß und eckig, mehr flach und rund und bequemer.“

Die fünf Monate mit dem Ding seien ihm „ewig“ vorgekommen, der Druck sei ständig spürbar gewesen: „Ich habe nie die Arrestzeit verpasst. Manchmal bin ich gerannt, um Punkt zu Hause zu sein.“ Er habe die Stunden draußen aber auch „voll ausgenutzt“, sei gleich morgens aus dem Haus. Dennoch, „der ganze Sommer war vermiest“. Es war heiß, er musste immer lange Hosen tragen. Kein Schwimmbad, keine lauen Sommernächte: „Wenn ich heimmusste, war es draußen noch hell.“ In der erlaubten Zeit außer Haus habe er sich immer vorsehen müssen, denn ein unbeabsichtigter Stoß gegen die Fußfesssel löste ein Signal aus: „Das erste Mal habe ich mich total erschrocken. Das Ding fing plötzlich an zu piepen.“

Von da an wagte er nicht mehr, sich frei zu bewegen: „Das ging mir ziemlich auf die Nerven.“ Freundschaften und Beziehungen hätten gelitten, „ich habe mich einsam gefühlt“. Zum Schluss aber habe er die viele Zeit für sich geradezu genossen, „ganz entspannt“ sei er gewesen. Letztlich sei das Ding besser gewesen als Knast. Die Regelmäßigkeit habe ihm gut getan: „Ich war gezwungen, mich mit mir zu befassen.“