Das verstehst du nie!

Will Deutschland von Joseph Beuys nichts mehr wissen? Heute würde der Künstler seinen 85. Geburtstag feiern

Ist „Das soll Kunst sein? Das kann ich auch“ die Umsetzung von „Jeder Mensch ist ein Künstler“?

Ein Stuhl mit Fett in einem Glaskasten des „Block Beuys“ im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Ein kleines Mädchen schaut sich das Ding mit großen Augen an. Sie sitzt auf den Schultern ihres Vaters und fragt: „Du, Papa, was ist das?“ Leicht genervt, aber mit sonorer Stimme antwortet er: „Das verstehst du nicht. Und du wirst es auch nicht verstehen, wenn du mal groß bist.“

Ein Beuys-Erlebnis im Jahr 2006. Im Mozart- und Freud-Jahr. Der Mann mit dem Hut wäre heute 85 Jahre alt geworden. Schon an seinem 20. Todestag im Februar zeichnete sich ab, dass es keine Beuys-Euphorie geben würde. Ein paar Ausstellungen zwischen München und Berlin. That’s it.

Es kann gut sein, dass das kleine Mädchen in Darmstadt „den Beuys“, wie er sich nennen ließ, spaßig gefunden hätte. Einen Mann, der die Frage: „Wollen Sie Bundeskanzler werden?“ spontan mit „Sicher! – am Ende würd ich auch Papst werden“ beantwortete.

Wahrscheinlich hätte Beuys als manischer Pädagoge dem Mädchen in Darmstadt erklärt, was sein Fettstuhl bedeutet. Dass das Fett eine plastische Masse ist, die sich zwischen bewegtem Wärmepol und starrem Kältepol bewegt. Ein Gleichnis für das Leben und die Veränderbarkeit von Gesellschaft. Natürlich hätte er ihr auch von den Bienen erzählt und von ihren Energiefeldern. Und vom Hasen, der sich in die Erde hineingräbt. Und er hätte viel gelacht.

Beuys war ein unentwegt sprechender Bekehrer. Der Erfinder der „sozialen Skulptur“ hatte seinen Privatmythos auf der Behauptung aufgebaut, er sei 1942 nach dem Absturz als Kampfflieger auf der Krim von Tartaren gerettet worden, mit Fett eingeschmiert und in Filz gehüllt worden. Schlaue Rechercheure haben dann herausgefunden, dass das alles gar nicht so war. Na und? Beuys war ein Erzähler, eine Mythenschleuder von unstillbarer Produktivität.

Wahrscheinlich hätte er dem kleinen Mädchen auch erzählt, wie er in den Siebzigern in Basel im Spielmannszug auf der Fastnacht mitgelaufen ist, obwohl die sein Werk „Feuerstätte“ verspottet haben, wegen des hohen Preises (110.000 Mark). Anschließend hat er denen sogar noch die Filzanzüge signiert.

Tja. Beuys kann man einfach nicht verstehen. Deswegen bereiten viele Eltern in Deutschland so wie der Vater in Darmstadt ihre Kinder lieber auf wichtigere Probleme vor: Pisa, Parallelgesellschaften, Terrorismus oder Hartz IV.

Oder sie gehen, wenn sie etwas über Beuys lernen wollen, in eine der zahlreichen „Beuys und …“-Ausstellungen. Dort wo emsige Kuratoren Beuys mit Michelangelo, Rodin oder Andy Warhol in den Elfenbeinturm quetschen, damit die Leute ihn endlich verstehen. Die Museumskasse freut’s und Michelangelos Zeichenkunst kommt immer gut weg. Nur hört man oft die Frage: „Diese Krakeleien, musste man die wirklich daneben hängen?“

Kultiviertes Unverständnis im Umgang mit Beuys, so könnte man das nennen, was Generationen von Kuratoren in den letzten zwanzig Jahren auf diese Weise erzeugt haben. Daneben wuchs ein Kunstmarkt in den Himmel und Künstler wurden gepusht, deren Preise ihre Substanz um Lichtjahre übersteigen. Viele von ihnen beschäftigen sich nur mit einem Thema: sich selbst. Sämtliche Aspekte der eigenen Körperflüssigkeiten werden durchgearbeitet, in der Annahme, der Künstler würde hier sein Inneres zeigen.

Es gibt hervorragende und spannende zeitgenössische Künstler. Doch die Flut von Werken, die harmlos sind oder mit Gebrauchszynismus provozieren wollen, bleibt in der Wahrnehmung hängen. Schnell wird dann alles in einen Topf geworfen und die unvermeidliche Frage gestellt: „Das soll Kunst sein? Das kann ich auch.“ Ist das die finale Umsetzung der Behauptung „Jeder Mensch ist ein Künstler“? Armer Beuys.

Das Tolle ist: Auch Ablehnung, mehr als 20 Jahre museale Vermittlung und ein überzüchteter Kunstmarkt haben Beuys’ Werken nicht wirklich etwas anhaben können. Nicht den Filzstapeln und Kupferplatten oder der Honigpumpe. Nicht den Vitrinen, in denen alltägliche, karge Materialien bis heute von Hinfälligkeit und sperriger Schönheit erzählen. Nicht den Aktionen, bei denen er einem toten Hasen die Bilder erklärte oder sich in New York mehrere Tage mit einem Kojoten einsperrte. Und natürlich auch nicht dem Fettstuhl. Diese Werke sind bis heute Rätsel. Nicht nur für das kleine Mädchen.

Und deshalb können wir alle beruhigt auf seinen 90. oder 100. Geburtstag warten und uns bis dahin das ein oder andere Beuys-Werk anschauen, um staunend, mit weit geöffneten Augen zu fragen: „Was ist das?“PETER SCHIERING