Die Geschichte verstehen

Lucy Redler, WASG-Spitzenkandidatin für die Berliner Abgeordnetenhauswahl, wurde gefeuert – und will weiter kämpfen

„Dialektisch-historischer Materialismus hat mich fasziniert. Ein Instrument, um die Welt zu erklären“

VON ASTRID GEISLER

Nun hat man sie also geschasst. „Das war zu erwarten“, sagt Lucy Redler. Sie klingt wie immer: nüchtern, sachlich. Sie ahnte, was kommen würde. Schon in den letzten Tagen führte sie durch das Berliner WASG-Büro, wie eine Mieterin, die weiß: Die Räumungsklage ist bereits bei der Post. Jetzt kann Lucy Redler nicht mal mehr sagen, ob sie überhaupt noch in das Gebäude kommen würde. Interviews erledigt sie telefonisch von ihrem WG-Zimmer aus. „Wir erkennen diesen Beschluss nicht an“, diktiert sie trocken. „Ich bin weiter Mitglied im Berliner Landesvorstand. Und Spitzenkandidatin der WASG für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus natürlich auch.“

Der Machtkampf in der Wahlalternative, er hat vermutlich gerade erst richtig begonnen. Lucy Redler ist längst nicht die Einzige, die bei der Wahl in Berlin partout gegen die Schwesterpartei PDS antreten will. Aber was hilft das? Sie ist die, auf die sich seit Wochen die Kameras richten – seit die Medien im Wirrwarr um den Kurs der neuen Linken diese hübsche Mann-Frau-Geschichte entdeckten. Junge Rebellin mischt alte Herrenriege auf. Trotzkismus plus Sexappeal. Mal ganz was anderes!

Das rechte Revolverblatt B. Z. witterte „scharfen Gegenwind für Rot-Rot“, die Konkurrenz fieberte über die „scharfe“ Lucy, das „blonde Gift“, das mit seinem „durchtrainiertem Körper“ bald den PDS-Spitzenkandidaten „auf die Matte werfen“ wolle. Just zum Wochenende dichtete die Süddeutsche Zeitung in der Rubrik „Du bist Deutschland“: „Selten war Sozialismus so sinnlich.“ „Du bist Deutschland“, wiederholt Redler. „Was für ’ne Frechheit!“ Sie legt die Seite weg. „Das sind so Momente, da weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“

Natürlich sei es „nicht schlimm“, wenn jemand über ihr Aussehen schreibe. Aber, fragt sie, was ist daran wichtig? Wieso interessieren sich Reporter sogar für ihre Jugend? „Glauben die, ich hätte schon mit 15 ständig total spektakuläre politische Aktionen geplant?“

Hört man ihre Schilderung dieser Jugend in Kassel, war daran nichts Sensationelles. Lucy Redler, Tochter zweier Pädagogen, Schülersprecherin, wollte sich nach mehreren Anschlägen auf Asylbewerberheime politisch engagieren: „Aber die Jusos, das waren Jungkarrieristen, die Lieblinge der Direktoren. Uncool. Und die von der Jungen Union, die auf dem Schulhof schwarze Kondome verteilten, die fand man sowieso nur ekelhaft.“ So folgte Lucy mit 15 der älteren Schwester in die Kasseler Antifa.

In der Antifa-Gruppe waren auch junge Trotzkisten aktiv, die den Schwestern erklärten, was Rassismus mit Kapitalismus zu tun habe. Ein Jahr später gingen die Redler-Töchter einen weiteren Schritt nach links – in die Sozialistische Alternative (SAV), ebenjene revolutionäre, trotzkistische Splittergruppe, die Lafontaine und seine Getreuen heute als Störenfried Nummer eins beim Fusionsprozess mit der PDS anprangern.

Aus dem Teenie-Engagement der Schwestern ist inzwischen ein sozialistisches Familienprojekt geworden. Wer die Solidaritätsappelle an die Berliner WASG studiert, findet darunter meist auch den Namen Leonie Blume. Die ältere Schwester – Mitglied im Länderrat der WASG – hat inzwischen einen SAV-Kollegen geheiratet. Alle sind auf Lucys Linie.

Der Bruch mit den Jugendidealen fiel bei den Schwestern aus. „Klar überlegt man sich mit 16 mal: Gibt es die Arbeiterklasse denn überhaupt noch?“, sagt Lucy Redler. „Aber ich fand die Grundanalyse einfach richtig. Dialektisch-historischer Materialismus, das hat mich fasziniert. Ein Instrument in der Hand zu haben, mit dem ich mir die Welt erklären kann. Zu verstehen: Wie funktioniert Geschichte? Wie funktioniert die Auseinandersetzung der Klassen? In welchem Stadium befinden wir uns heute?“

Schon mit 22 trat sie als Studentin der Sozialökonomie in Hamburg-Altona zur Bundestagswahl an. Chancenlos, natürlich. Aber, das störte sie schon damals nicht. Sie mischte bei Attac mit, organisierte Schülerdemos gegen den Irakkrieg. Inzwischen, mit 26, ist sie Berufstrotzkistin, arbeitet als eine von fünf hauptberuflichen Kadern der revolutionären SAV. Ihre Ziele sind die der Organisation. Man kann sie in offiziellen Papieren nachlesen: Es geht um den „Aufbau einer sozialistischen Demokratie auf der Grundlage der Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum und einer demokratisch geplanten Wirtschaft, in Deutschland wie international“. Die WASG gilt als wichtiger „Ansatzpunkt“ auf dem Weg dorthin.

Es ist eine Mischung von Respekt und väterlicher Verzweiflung, mit der sich WASG-Politiker über die Ikone der Parteifundis äußern. Rhetorisch talentiert, intelligent, persönlich absolut sympathisch, eine interessante Gesprächspartnerin mit „hervorragenden Analysefähigkeiten“, raunen sie – aber inhaltlich vertrete ihr Trupp einfach „krudes Zeug“. „Ich hoffe“, sagt ein Parteimann, „sie kehrt nochmal in die Realität zurück.“ Die WASG wolle doch vernünftige Alternativen zur Regierungspolitik bieten, klagt ein anderer: „Aber die wähnen sich kurz vor der Revolution!“

Wirklich? Will Lucy Redler die Revolution anzetteln? „Eine Revolution zettelt man nicht an, die ergibt sich, wenn, aus einer Welle von Massenprotesten“, antwortet sie trocken. „Ich glaube, man muss mit dem Kapitalismus brechen. Wie und wann, das muss die Mehrheit entscheiden. Nach meinem Verständnis bedeutet das aber nicht unbedingt, dass es blutige Auseinandersetzungen geben muss.“

Das kann die linken Fusionsstrategen um Lafontaine nicht wirklich beruhigen. Sie dürften inständig hoffen, die junge Revolutionärin und ihre Mitstreiter nach dem gestrigen Coup endlich ins Abseits drängen zu können. Doch aufgeben wird Lucy Redler deshalb nicht. Egal, ob der Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus klappt. Sie sagt, sie habe einen „ungebrochenen Optimismus“, dass sie immer einen Platz für sich finden werde. Und ein „Gefühl von einer historischen Verantwortung“.