Die passiven Passanten

Jedes Jahr werden Tausende in der Öffentlichkeit verprügelt. Jüngster Fall: ein Italiener in Prenzlauer Berg. Obwohl Zivilcourage häufig beschworen wird, haben viele Passanten Angst, einzugreifen

Von Sandra Courant

Der Überfall am Sonntagmorgen geschah mitten im belebten Prenzlauer Berg. Drei Männer verprügelten einen 30-jährigen Italiener mit einem Baseballschläger. Das Motiv: Fremdenfeindlichkeit. Als ein Passant zu Hilfe kam, waren die Täter bereits geflüchtet. War tatsächlich niemand in der Nähe, der hätte helfen können, als die Täter zuschlugen? Jemand, der zumindest schnell die Polizei hätte rufen können? Fragen, die noch nicht geklärt sind. Die Polizei sucht noch Zeugen.

Anders als im Fall von Melanie B.: Sie wurde vor den Augen von zahlreichen Passanten verprügelt – ohne dass ihr jemand zu Hilfe kam. Am 7. Dezember 2005 fuhr die damals Schwangere mit der U-Bahn-Linie 1. „Als ich am Kottbusser Tor einstieg, waren da fünf Jugendliche, die auf den Boden gespuckt und einen Obdachlosen angepöbelt haben“, erzählt die 27-jährige Studentin. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen das lassen.“ Die Jungen hätten sie daraufhin beschimpft. Am Bahnhof Möckernbrücke sei sie ausgestiegen und habe den Zugführer geholt, sagt Melanie. Noch vor seinen Augen prügelten zwei der Männer auf die Schwangere ein, traten ihr in die Seite, schlugen ihr ins Gesicht. Niemand der Umstehenden griff ein.

7.394 erfasste Fälle von Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen, öffentliche Verkehrsmittel inklusive, zählt die neueste Senatsstatistik von 2004. In der Realität sind es jedoch weit mehr, denn längst nicht jeder Überfall kommt zur Anzeige. Typisch für Angriffe dieser Art: Obwohl sie an Orten verübt werden, wo sich viele Menschen aufhalten, wird das Opfer allein gelassen. Aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden, schauen Zeugen einfach weg. „In solchen Situationen ist es wichtig, laut und direkt um Hilfe zu bitten“, sagt Sabine von Schwerin von der Zentralstelle für Prävention im Landeskriminalamt. Durch Sätze wie „Sie in der roten Jacke, rufen Sie doch bitte die Polizei“, würden die Umstehenden aus ihrer Anonymität geholt.

Eigentlich hat Melanie also alles richtig gemacht. Bereits im Waggon habe sie so laut geredet, dass es ihre Mitfahrer hören mussten, erzählt sie. Doch niemand habe sie unterstützt. Sie habe auch Passanten um Hilfe gebeten, sie am Arm gefasst und aufgefordert, die Polizei zu rufen. „Die meisten haben gesagt, sie hätten kein Handy.“ Ein Mann wählte schließlich 110. Erst als Melanie zusammenbrach, kümmerte sich eine Frau um sie.

„Viele schauen weg, weil sie sich nicht die Zeit nehmen wollen, hinterher bei der Polizei eine Aussage zu machen“, sagt Michael Grundwald, der Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin. „Andere haben einfach Angst, fürchten vielleicht Rache.“

Ob und wie sich die Hilfsbereitschaft der Berliner in den vergangenen Jahren entwickelt hat, lässt sich kaum feststellen. „Wir haben darüber keine statistischen Erhebungen“, sagt Polizeipräsident Dieter Glietsch. „Das kann man eigentlich immer nur vom Gefühl her beurteilen. Und da würde ich sagen, auffällige Veränderungen habe ich in den letzten Jahren nicht festgestellt.“

Bei Opferschutzorganisationen ist das Thema „Zivilcourage“ ein Dauerbrenner. „Wir hören immer wieder von mangelhafter oder gar keiner Hilfeleistung“, erzählt Astrid Gutzeit von der Opferhilfe Berlin, einem Verein, der Zeugen und Opfer von Straftaten berät. „Dass ihnen nicht geholfen wird, ist für manche Opfer schlimmer als die Tat selbst.“

Regina Geis von der Opferschutzorganisation Weißer Ring kritisiert, dass das Thema zu wenig öffentliche Beachtung findet. „Deswegen leisten wir nicht nur direkte Hilfe für die Opfer, sondern versuchen aufzuklären“, sagt Geis.

Zuletzt startete die Organisation im September 2005 eine bundesweite Kampagne unter dem Motto „Stoppt das ‚Vogel-Strauß-Syndrom‘ “. Kaum jemand wisse beispielsweise, dass er durch die Unfallkasse Berlin gesetzlich versichert ist, wenn er bei einer Straftat eingreift.

Sabine von Schwerin vom Landeskriminalamt betont, dass man helfen sollte, ohne dabei sich selbst zu gefährden. Die Polizei veranstaltet regelmäßig Seminare, in denen Bürger lernen, sich als Zeuge oder Opfer richtig zu verhalten, laut zu schreien und die Polizei zu rufen. Um die Zivilcourage unter Kindern und Jugendlichen zu fördern, halten Präventionsbeauftragte der Polizei auch Antigewalttrainings in Schulen ab.

Wer schon nicht eingreift, sollte wenigstens gut beobachten und am Tatort bleiben, um der Polizei erste Anhaltspunkte zu liefern, sagt Sabine von Schwerin. Viele Fälle würden nicht aufgeklärt, weil sich keine Zeugen fänden. So auch im Fall Melanie B. Außer dem Zugführer meldeten sich nur zwei weitere Zeugen. Das Verfahren wurde eingestellt.

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