Drei Stunden heile WASG-Welt

Schreie ins Mikrofon, juristische Tricks und „No satisfaction mit Hartz IV“: Beim Sonderparteitag der WASG erreicht der bizarre Richtungsstreit zwischen Bundes- und Landesvorstand einen Tiefpunkt

VON MATTHIAS LOHRE

Hüseyin Aydin hat keine Zeit mehr, seine Zigarette zu rauchen. In der rechten Hand verglüht seine Kippe, während er dem Mann vor ihm erregt erklärt, warum er hier ist: „Ihr habt die Sache so zugespitzt! Ihr habt es so gewollt.“ Aydin ist der Beauftrage des Bundesvorstands; er soll die aufmüpfige Berliner WASG vom eigenständigen Wahlantritt abhalten. Wenige Meter hinter seinem Rücken, auf einer Parkbank, sitzt eine junge Frau, Lucy Redler. Die WASG-Spitzenkandidatin tut so, als sehe sie den Mann im dunklen Anzug nicht. Doch die beiden stehen im Zentrum dieses bizarren Parteienstreits. Hier, im unscheinbaren Seniorenheim in Kreuzberg, beim Sonderparteitag.

„Ihr stützt doch den Wolf-Senat mit eurer Politik!“, ruft kurz darauf ein Mann Aydin zu. Es ist Michael Prütz, einer vom abgesetzten Landesvorstand. Sein Kollege Rouzbeh Taheri drängt ihn zur Eile: „Mischa, komm. Meld dich erst mal an.“ Prütz folgt ihm in den Veranstaltungssaal. Die Sitzreihen sind voll mit rund einhundert Delegierten. Gewählt waren einmal 157. Gekommen sind nur die Unterstützer des entlassenen Vorstands und einige Gäste.

Viele von ihnen werden in den folgenden drei Stunden immer wieder laut „Buh!“, „Stalinist!“ und „Lügner!“ schreien. Es ist ihre Zeit, hier drinnen dürfen sie sich gemeinsam im Recht fühlen gegen die neoliberale Welt dort draußen. Und in der Mehrheit, die es anderswo für sie nicht gibt. In Wahlumfragen schrumpft die Berliner WASG derzeit auf 1 Prozent. Eigentlich sind solche Größen nicht mehr seriös erfassbar.

Mittendrin in dieser kleinen Welt sitzt nun auch der WASG-Mitgründer Hüseyin Aydin, jetzt ohne Zigarette. Nur begleitet vom bulligen WASG-Bundesvorstand Axel Troost, steht er ziemlich allein da. Hat Aydin doch im Auftrag des Bundesvorstands diesen Sonderparteitag schlicht für abgesagt erklärt. Den Landesvorstand hat die Bundesspitze schon drei Tage zuvor abgesetzt. Die Stimmung zwischen Gegnern und Befürwortern einer WASG-Fusion mit der Linkspartei ist gespannter denn je.

Die Mikrofonanlage funktioniert eigentlich. Doch wird jeder der rund 30 Redner auf dem Podium laut sprechen und viel zu nah am Mikro stehen. In den Sitzreihen vor ihnen kommt nur ein Geräuschbrei an. Doch die Zuhörer scheinen alles zu verstehen, auch die Rede Rouzbeh Taheris. Selbst ohne Geld bleibe der Landesverband handlungsfähig, sagt er. Unter lautem Applaus ruft Taheri in den Saal: „Wir haben weiter die politische Unterstützung der Mitglieder der Berliner WASG.“ Was diese wollen, scheint klar. Quer über den Tischen des Präsidiums prangt der WASG-Wahlspruch: „Sozialstaat verteidigen – Reichtum umverteilen!“ Dass die Umsetzung dieses Vorhabens der 850-Mitglieder-Partei schwer fallen könnte, ist an diesem Abend egal. Es geht ums Wir-Gefühl, und das spricht Taheri an. Seine Rede schließt er mit dem Aufruf: „Wir lassen uns nicht wegbeschließen!“ Standing Ovations.

Als Aydin, der ungebetene Gast, zum Rednerpult geht, rufen Delegierte ihre Kollegen zur Ruhe. Er versucht sein Glück mit einem Appell an die Verantwortung der Berliner für das Zustandekommen der neuen Partei: „Wir sollten nicht auf die Spaltung, sondern auf die Einigung hinarbeiten.“ Sein rechter Arm zerschneidet immer wieder die Luft. Er redet auf einem Parteitag, den es seiner Ansicht nach gar nicht gibt.

Nach diesem Auftritt muss Lucy Redler in ihrer Rede nur bestätigen, was ihre Zuhörer bereits wissen. Sichtlich angespannt, mit hochgezogenen Schultern, ruft die Spitzenkandidatin ins überforderte Mikro: „Wir sind der Garant dafür, dass die neue Linke nicht auf der Basis der Politik der Berliner Linkspartei gebildet wird!“ Nach der Rede vergessen die Delegierten vor Euphorie fast, sich wieder zu setzen.

Als der Parteitag nach vielen weiteren Wortmeldungen endet, ist es draußen schon dunkel. Bei nur einer Gegenstimme votieren 84 Delegierte für den eigenständigen Wahlantritt. Den Bundesvorstand verurteilen sie für die „undemokratische“ Absetzung des Landesvorstands. Die Delegierten gehen erhitzt und müde aus dem Saal. Zwei Männer stehen mit einer Gitarre am Rednerpult. Sie singen zum Abschluss „I can’t get no satisfaction – mit Hartz IV!“. Ziemlich schief und laut, aber viele singen mit. Draußen vorm Seniorenheim verhallt der Gesang sehr schnell.