Psychoseminar und Selbsttherapie

In dem Filmfestival „Ausnahme/Zustand“ werden Dokumentationen über psychische Erkrankungen gezeigt

Eine Psychose kann großes Kino sein! Mit leuchtenden Augen erzählt in dem Dokumentarfilm „Raum 4070/4071“ einer von der Allmacht, die ihm während eines psychotischen Schubes in der von ihm allein geschaffenen Welt zusteht – davon, dass für ihn dort alles Sinn macht und schön ist. Andere Psychotiker finden sich in Alpträumen wieder, aus denen sie nicht wieder aufwachen können – sie leben wie in Horrorfilmen. Das Unterhaltungskino hat sich schon immer von den psychischen Krankheiten inspirieren lassen, sich dort voyeuristisch seine Geschichten, seine Täter und Opfer gesucht.

Die Linie geht von „Caligari“ über „Psycho“ bis zum „Kuckucksnest“ und „Donnie Darko“. Aber allzu nah will man diesen Kranken dann doch nicht kommen, Faszination und Angstlust dürfen nicht in eine existenzielle Verunsicherung umschlagen, und deshalb müssen sie immer die „Anderen“ bleiben, die man bedauern, fürchten, auslachen oder als tragische Helden ansehen kann. Einen Schritt in die andere Richtung versuchen die Veranstalter des Filmfestivals „Ausnahme/Zustand“, das seit einigen Wochen mit acht Dokumentarfilmen durch die Programmkinos des Landes reist und in dieser Woche in Bremen, sowie im Juni in Oldenburg gezeigt wird.

Wie alle an Themen orientierten Filmreihen leidet auch diese an dem Dilemma, dass die Veranstalter möglichst viele Aspekte abdecken wollen, also eher eine inhaltliche als eine ästhetische Auswahl treffen, und so ist die Qualität der Filme extrem unterschiedlich. Der schon erwähnte „Raum 4070/4071“ von Jana Kalms und Torsten Strieglitz tendiert etwa stilistisch gegen null. Die Regisseure haben nichts weiter getan, als mit ein paar Kameras ein Psychoseminar in Potsdam aufzunehmen. Aber bei Dokumentarfilmen ist manchmal das Gezeigte so interessant, dass man den Machern die handwerklichen Unzulänglichkeiten verzeiht, und hier erfährt man aus erster Hand so vieles über Psychotiker, dass der Film trotz allem sehenswert ist. In dem Seminar treffen sich regelmäßig psychisch Kranke und ihre Angehörigen und tauschen ihre Erfahrungen aus. Während etwa ein Vater erzählt, wie das Verhalten seines Sohnes die Familie zerstört, schildert dieser, wie intensiv, grandios und wirklich die von ihm geschaffene Wahnwelt ist, und dass ihm die Realität immer nur wie eine Scheinwelt, eine Schimäre erscheint. In anderen Dokumentationen werden Menschen mit schweren Depressionen und Magersucht, Selbstmörder und in der Psychiatrie eines algerischen Krankenhauses geschildert.

All diese Filme sind klassisch gebaute Dokumentationen mit einem sich objektiv gebenden Regisseur, der von außerhalb zeigt und erzählt. Doch in drei von den Produktionen dieser Reihe haben die Filmemacher die Kamera auf sich selbst gewendet. Der radikalste darunter ist „Tarnation“ von Jonathan Caouette (siehe Foto). Dieser hat hier im doppelten Sinn des Wortes den Film seines Lebens geschaffen. Seine Mutter wurde als junges Mädchen psychisch auffällig und danach mehr als 200-mal mit Elektroschocks behandelt, wodurch sich ihre Persönlichkeit unwiederbringlich veränderte. Der Film ist ein Zeugnis von dieser Zerstörung, mit der sich Caouette von Kindheit an auseinander setzen musste. Dies tat er schon als 11-Jähriger, indem er sich selbst in einem Homemovie inszenierte. Seine von Ärzten diagnostizierte „Entpersonalisierungs-Störung“ kann man auch als den Versuch einer Selbstheilung durch Kunst ansehen, und genauso wirkt dieser wütende, poetische, indiskrete und dadurch so wahrhaftig wirkendeFilm.

Wilfried Hippen

weitere Informationen unter www.ausnahmezustand-filmfest.de