Das Elternverhalten ändern

Heute entscheidet der Bundesrat über Hamburgs Initiative für verbindliche Termine beim Kinderarzt. Uwe Hinrichs vom Kinderschutzbund warnt davor und streitet darum mit SPD-Politiker Dirk Kienscherf

Moderation: Kaija Kutter

taz: Herr Kienscherf, in Hamburg wurden seit dem Hungertod der siebenjährigen Jessica viele Fälle von Kindesverwahrlosung bekannt. Sie treten seither als Aufklärer und Ankläger auf. Von Sozialarbeitern war zu hören, die SPD würde mit ihren Forderungen nach mehr staatlicher Kontrolle die CDU rechts überholen …

Dirk Kienscherf: Die meinen wohl, dass wir in bestimmten Fällen ein verbindlicheres Auftreten gegenüber Familien wollen, die mit freiwilligen Angeboten bisher nicht erreicht werden konnten. Da unterscheiden wir uns von der CDU. Wir wollen nicht länger wegschauen.

Herr Hinrichs, Sie warnen vor mehr Kontrolle: Allein der Appell von Hamburgs Sozialsenatorin an die Bürger, in der Nachbarschaft auf Kinder zu achten, werde dazu führen, dass Familien sich zurückziehen.

Uwe Hinrichs: Wir brauchen eine höhere Verbindlichkeit, da bin ich einer Meinung. Aber wir haben Jahrzehnte praktischer Erfahrung mit vernachlässigten Kindern. Davon gibt es je nach Ausmaß des Dunkelfelds allein in Hamburg zwischen 800 und 8.000. Ein großes Risiko ist, dass Eltern sich isolieren und Angst haben, Hilfe zu holen. Deshalb ist alles, was nach Kontrolle oder Verschärfung riecht, kontraproduktiv. Als ich von dem SPD-Antrag hörte, die Vorsorge beim Kinderarzt zur Pflicht zu machen, dachte ich auch spontan: Da ist die SPD ja noch rechter als die CDU.

Kienscherf: Das hat mit rechts nichts zu tun, sondern mit der Frage nach der Verantwortung des Staates für das Kindeswohl. Die CDU geht immer noch von dem traditionellen und heilen Familienbild aus. In der Realität müssen aber viele Kinder Schlimmes erleiden, dem müssen wir als Gesellschaft Rechnung tragen. Für uns steht im Mittelpunkt das schwächste Glied, das Kind. Wenn wir vorschreiben, dass alle regelmäßig zum Kinderarzt müssen, wollen wir damit auch diesen Kindern eine Gesundheitsvorsorge ermöglichen. 96 Prozent der Hamburger Eltern nehmen dies ja bereits wahr. Wir müssen an die letzten vier Prozent ran.

Und dafür das Kindergeld kürzen?

Kienscherf: Das ist juristisch schwierig. Aber die Krankenkassen können die Daten der Kinder, die dort nicht erscheinen, beim Jugendamt melden. Das wäre ein kleiner Baustein, um das Dunkelfeld zu erhellen.

Hinrichs: Das klingt gut, ist aber ein Trugschluss. Wenn es jetzt heißt, mit 100-Prozent-Beteiligung bei der Vorsorge haben wir einen wichtigen Schritt gegen Kindesvernachlässigung getan, ist das fachlich fatal.

Was wäre Ihre Lösung?

Hinrichs: Es müsste anders formuliert werden. Die Verpflichtung der Eltern, alles für die Gesundheit des Kindes zu tun, ist ohnehin im Grundgesetz festgeschrieben. Aber als es vor vier Jahren darum ging, das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung festzuschreiben, wollten die CDU-Länder die Formulierung: „Die Eltern haben ihr Kinder gewaltfrei zu erziehen.“ Hamburgs SPD-Justizsenatorin Lore Peschel-Gutzeit hat sich damals dafür eingesetzt, dass es heißt: „Das Kind hat ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.“ Damit ist die Gesellschaft in der Pflicht, Eltern dabei zu unterstützen, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Wenn das Gesetz formuliert, das Kind habe ein Recht auf die Vorsorgeuntersuchung, unterschreibe ich das sofort. Ich bin mit den Behörden im Gespräch, dass wir dafür in diesem Jahr noch eine Kampagne machen.

Mit der Sie werben?

Hinrichs: Anders geht es nicht. Es gibt ein Gutachten von Peschel-Gutzeit, wonach wir das gar nicht verpflichtend machen können. Das geht nur, wenn eine kindbezogene Seuche droht.

Kienscherf: Diese Problematik ist uns bekannt. Deswegen zeigen wir ja auch in unserem Antrag, der zur Grundlage der Hamburger Bundesratsinitiative wurde, einen zweiten Weg auf. Dafür müssten die Krankenkassen den Jugendämtern die Kinder melden, die nicht teilgenommen haben. Die Jugendämter müssten sich dann im Bedarfsfall mit den Eltern in Verbindung setzen. Das wäre rechtlich möglich.

Hinrichs: Man sollte als Politiker nur das fordern, was umsetzbar ist. Ein Datenabgleich zwischen den Jugendämtern und den Krankenkassen wird datenschutzrechtlich nie möglich sein.

Das Datenschutzrecht könnte man ändern, wenn es den Kindern hilft.

Hinrichs: Tut es nicht. Erstens sind diese Untersuchungen, wie sie jetzt bestehen, überhaupt nicht geeignet, Vernachlässigung zu erkennen. Zweitens: Was passiert denn, wenn der Arzt die Vernachlässigung erkennt? Alles, was nach Sanktionen riecht, treibt diese Familien in die Isolation. Davor warnen auch die Kinderärzte. Wenn eine Familie eine ‚U‘ vergisst und das Gefühl hat, da kriege ich einen auf den Deckel und werde weitergemeldet, wird das zum Rückzug führen.

Kienscherf: Was nützt ein super Verhältnis zwischen den Ärzten und den Eltern? All die Kinder, deren Schicksal wir im Sonderausschuss Vernachlässigung untersucht haben, waren nie bei einer Vorsorgeuntersuchung. Nur, weil es nicht verbindlich ist, haben diese Familien kein Vertrauensverhältnis zum Arzt.

Hinrichs: Wir wissen doch, wir können eine Verhaltensänderung nur durch positive Beziehung aufbauen.

Kienscherf: Aber wir müssen mit der positiven Beziehung erreichen, dass sich das Verhalten der Eltern auch tatsächlich ändert. Es kann nicht sein, dass ich als Staat in einer Familie fünf, sechs Jahre drin bin, aber die Kinder weiterhin jahrelang leiden müssen oder bei Hausbesuchen keiner in das verdreckte Kinderzimmer schaut, weil das Kind angeblich schläft.

Hinrich: Da ist die Frage, wie qualifiziert die Kräfte sind.

Kienscherf: Richtig. Daher brauchen wir mehr Qualifikation, mehr Personal, mehr Hilfsangebote, aber auch mehr Verbindlichkeit.

Herr Kienscherf, warum stellt sich der Arbeitskreis Gesundheit der SPD im Bundestag gegen Ihre Pläne?

Kienscherf: Die betrachten das als Zwang, und Zwang sei schädlich. Dieser Zwangsbegriff macht viel kaputt. Wir brauchen ein Umdenken in Richtung mehr Verbindlichkeit und mehr Hilfen. Beides gehört zusammen. Was wir nicht brauchen, ist die Passivität der letzten Jahre und Politiker, die fernab der Probleme unüberlegte Entscheidungen treffen. Das entscheidende Beispiel kam von Hamburgs Gesundheitsstaatsrat Wersich, der sagte, es gibt Mütter, die in der Klinik alkoholisiert entbinden und dann einfach nach Hause geschickt werden. Da könne man nichts machen, weil Alkoholismus nicht verboten sei. Damit gebe ich mich nicht zufrieden.

Hinrich: Das heißt aber noch nicht, dass dies eine schlechte Mutter ist. Die Krankenhausmitarbeiter sagen, sie sehen diese Dinge, haben aber kein Personal. Wir müssen dort frühe Hilfe mit einem Netz von Hebammen aufbauen, da sind wir als Kinderschutzbund am planen und werden bald einiges vorstellen.

Kienscherf: Na, dann tut sich ja endlich was. Dieses Netz der frühen Hilfen wollen wir ja auch deutlich ausbauen, wir haben dazu ein breites Maßnahmenpaket entwickelt.

Und wie wollen Sie ihre Berliner Genossen überzeugen?

Kienscherf: Es zeichnet sich ab, dass der Bundesrat einstimmig dafür votiert. Das werde ich zum Anlass nehmen, auf die Fraktionsspitze zuzugehen und dafür zu kämpfen, dass es umgesetzt wird.

Hinrichs: Dann hoffe ich, dass Sie nicht all ihre Kraft da reinsetzen, denn das wird scheitern.

Kienscherf: Schauen wir mal.