Der Hoffnungsträger

AUS BOGOTÁ GERHARD DILGER

So einen Sonntagnachmittag hat Kolumbiens Hauptstadt selten erlebt. Von allen Seiten strömen Menschen auf die zentral gelegene Plaza Bolívar. Stunden bevor der erste Politiker der Linkspartei Demokratischer Alternativer Pol die Bühne an der Rückseite des Präsidentenpalastes betritt, ist das weitläufige Rechteck um das Denkmal des Nationalhelden Simón Bolívar bis in die hintersten Winkel gefüllt.

Gut 40.000 Zuhörer dürften es sein, die eine Aufbruchsstimmung verbreiten wie zuletzt vor fünfzehn Jahren. Damals hatte die M-19-Guerilla die Waffen niedergelegt. Mit den übrigen Rebellengruppen führte die Regierung Friedensgespräche, der Krieg gegen die Linkspartei „Patriotische Union“ schien vorbei. Kolumbien gab sich eine moderne, demokratische Verfassung.

Doch die Hoffnungen auf einen Neuanfang zerstoben bald. Drei Präsidenten verhandelten seither ergebnislos mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc), doch zum Ende ihrer Amtszeiten tobte der Krieg immer heftiger – nicht zuletzt wegen der Dollars aus dem Drogenhandel, die die Kassen der Farc und mehr noch der rechtsextremen Paramilitärs füllten.

Der jetzige Staatschef Álvaro Uribe setzte von vornherein auf eine militärische Lösung gegen die Guerilla und drängte sie mit Milliardenhilfen aus den USA in die Defensive. Über 30.000 Kämpfer sollen die Waffen niedergelegt haben, brüstet sich der Präsident. Was Uribe verschweigt: Die mafiösen Strukturen der Todesschwadronen haben weiter um sich gegriffen denn je zuvor.

Glaubt man den Umfragen, wird Uribe morgen seinen Sieg wiederholen. 2002 erreichte er bereits in der ersten Runde die absolute Mehrheit. Doch auf der Plaza Bolívar, die Uribe zwei Tage zuvor nur zur Hälfte gefüllt hat, will das kaum jemand glauben. „Das hier ist die wirkliche Umfrage“, ruft ein älterer Herr mit schlohweißem Haar und Vollbart in die jubelnde Menge. Und setzt noch eins drauf: „Wir werden Uribe nicht die Chance zu einer Stichwahl geben.“

„Mit ethischem Blick“

Carlos Gaviria, so heißt der 69-jährige Redner, ist der Hoffnungsträger des anderen Kolumbien. Sein Aufstieg ist selbst an den umstrittenen Umfragen des Establishments abzulesen: Über 23 Prozent räumte ihm die Tageszeitung El Tiempo zuletzt ein – im Februar waren es noch 3,5.

Dass sich Gaviria nach einer jahrzehntelangen Universitätskarriere in Medellín und seiner Tätigkeit als Oberster Verfassungsrichter 2002 in die politische Arena wagte, ist Bogotás populärem Bürgermeister Lucho Garzón zu verdanken. Auf Anhieb zog der Jurist mit einem der besten Einzelergebnisse in den Senat ein, wo er sich bald als prominentester Verteidiger des Rechtsstaats profilierte.

Auf der Kundgebung liest die Schriftstellerin Laura Restrepo einen Brief des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago vor: „Als ich mir vorstellte, ich wäre Kolumbianer, beschloss ich, Carlos Gaviria zu wählen. Dieser integre, makellose Demokrat mit einem ethischen Blick auf das Leben und das, was die Politik sein müsste, ist der Präsident, den Kolumbien braucht.“ Eine Frau im Publikum sagt: „Für mich ist Gaviria gar kein Politiker, er ist ein Weiser, fast wie ein Schamane, dem man automatisch vertraut.“

Auf der Bühne wird der Kandidat von dem Intellektuellen William Ospina gelobt, der 1997 den Essay „Das nationale Projekt und der gelbe Streifen“ verfasst hatte. Im Hinblick auf die Farben der Konservativen und Liberalen, die Kolumbien seit seiner Unabhängigkeit abwechselnd regiert haben, fragte Opina damals: „Jetzt, wo Rot und Blau kein Weg mehr sind – wo bleibt der gelbe Streifen?“ Die Antwort ist nun das gelbe Fahnenmeer auf der Plaza Bolívar.

Stunden später gibt sich Carlos Gaviria im Fernsehen als Agnostiker und überzeugter Liberaler zu erkennen, als Anhänger einer „antipaternalistischen“ Sozialpolitik, der „bestimmte Verhaltensweisen“ zulassen will, ohne sie jemandem aufzuzwingen: „Kolumbien ist ein sehr gewalttätiges Land, dem man beibringen muss, vernünftig zu argumentieren.“ Anders als Uribe will er die Farc nicht als Terroristen bezeichnen – das erschwere die dringend notwendigen Friedensverhandlungen mit den Rebellen und verstelle den Blick auf deren „ursprüngliche Anliegen“.

Anschließend verweigert sich Uribe kurzfristig den Fragen der Journalisten – so wie er in den letzten Monaten jeglicher Debatte mit seinen Konkurrenten aus dem Weg ging. Stattdessen warnte er vor Militärs, „das Vaterland den verkappten Kommunisten“ zu übergeben. Gaviria sei ein „treuer Jünger von Karl Marx“.

„Ja, Gaviria hat einen Bart“, spottet der Schriftsteller Héctor Abad Faciolince, „wie Fidel, wie Engels, und natürlich Marx“. Tatsache ist: Gaviria ist kein Einzelgänger, unter seinen Weggefährten befinden sich Marxisten wie der Senator Jorge Enrique Robledo von der ehemals maoistischen Revolutionären Unabhängigen Arbeiterbewegung oder kommunistische Gewerkschafter. Der 2005 gegründete „Alternative Demokratische Pol“ ist zwar bisher eher ein Sammelbecken, doch die Einheit der demokratischen Linken ist das Novum des diesjährigen Wahlkampfs.

Erzwungene Einheit

Die „autoritäre Regression“ Uribes habe in den letzten Jahren den Einigungsprozess der chronisch zersplitterten kolumbianischen Linken geradezu erzwungen, analysiert der Politologe Fermín González. Den „Pol“ sieht er als Zwischenetappe eines langen Reifungsprozesses „von unten“, der auch fortschrittlichen Liberalen und Konservativen, Sozialdemokraten und anderen Patrioten eine neue politische Heimat biete. Die erstmals angesetzten Vorwahlen im März gewann Gaviria überraschend gegen Senator Antonio Navarro Wolff, einen Exguerilla. „Ein Glücksfall“, sagt González. „Dadurch kann die Partei leichter zu neuen Wählerschichten vorstoßen.“

Am Montag reiste Gaviria mit Robledo, seinem einstigen Kontrahenten Navarro Wolff und weiteren Senatoren in drei südkolumbianische Städte. In der gecharterten Maschine herrscht Hochstimmung, Uribes TV-Rückzieher werten die „Gelben“ als Zeichen der Unsicherheit. Auf allen Flughäfen bereiten die Parteiaktivisten der Delegation einen begeisterten Empfang. In der Provinz Putumayo, einem Schwerpunkt des US-Antidrogenprojekts Plan Colombia, hat die Vernichtung der Kokafelder tausende Kleinbauern um ihre Existenz gebracht. Die meisten von ihnen leben jetzt in der Elendsvierteln der Provinzhauptstadt Puerto Asís.

Die kämpferischen Reden überlässt der Kandidat seinen Gastgebern und Begleitern. „Hier hat Uribe Flüsse von Milch und Honig versprochen“, höhnt Navarro Wolff. „Und was ist von dem Modell alternativer Entwicklung geblieben? Nichts! Im Gegenteil, es gibt mehr Koka als früher – und mehr Vertriebene.“ Freihandelskritiker Robledo ruft: „Uribe kniet nicht nur vor den Yankees, nein, er geht mit ihnen ins Bett.“

Gaviria ist kein Mann der starken Worte. Mit ausladenden Handbewegungen doziert er über den sozialen Rechsstaat. Die Linke stehe in der historischen Verantwortung, gegenüber Uribes „reaktionärem, rechtsextremem Projekt“ die Errungenschaften der Verfassung einzuklagen, ruft er, das Recht auf Arbeit, auf menschenwürdige Wohnungen, auf Bildung. „Oft werde ich gefragt, wie ich mit einem Parlament regieren kann, das von den Uribisten beherrscht wird. Dazu brauchen wir euch, ihr müsst uns ständig auf die Finger sehen, unseren langen, wunderbaren Weg voller Gefahren müssen wir zusammen gehen.“

Karawanen organisieren

Während Gaviria auf den Flügen entspannt, organisiert sein Wahlkampfleiter unermüdlich Pressetermine, Treffen mit neuen Verbündeten und Wahlkampfmaterial für die Termine der letzten Woche, wenn die Senatoren die kolumbianische Provinz unter sich aufteilen. In Florencia, der Hauptstadt der früheren Farc-Hochburg Caquetá, schildert der Abgeordnete Alonso Orozco, wie die Behörden die Wahlbeteiligung der Landbevölkerung behindern. In dem weitläufigen Gebiet seien die Wahllokale anders als früher mit Bedacht in die Zentren der Gemeinden verlegt worden, klagt Orozco: „Wir müssen Karawanen organisieren, die Leute müssen zu Pferd, zu Fuß kommen, koste es, was es wolle!“

Ähnlich mobilisieren die „Polistas“ im ganzen Land. Bei den Kongresswahlen im März fanden nur 40 Prozent der Wahlberechtigten den Weg zu den Urnen. In Bogotá warnt Parteichef Samuel Moreno Rojas vor Wahlbetrug, „wie im März und bei der Präsidentenwahl 2002“. So seien in etlichen Provinzen die als links verschrienen Lehrer von den Listen der Wahlhelfer gestrichen worden, berichtet der Senator. Und es gebe Hinweise darauf, dass die Paramilitärs in mehreren Provinzen der Karibikregion die Bevölkerung zur Stimmabgabe für Uribe zwingen wollten.

In Bogotá zirkuliert derzeit eine gefälschte Umfrage: „Sind Sie damit einverstanden, dass die Farc Gaviria unterstützen?“ Für Carlos Gaviria ist diese Verleumdung ein weiteres Zeichen für die Unsicherheit der Uribe-Anhänger: „Sie spüren, wie die Zustimmung zu unserem Projekt unaufhaltsam wächst.“