Alles „über“ in England

Lange dachten wir, die Briten mögen uns nicht. Ein Irrtum! Deutschland und die Deutschen sind längst in, cool und hip. Und nicht nur das: Deutschland ist „über“. Zur Karriere eines Wortes

VON NATALIE TENBERG

Irgendetwas ist mit Deutschland los. Nicht in unserem Land, sondern mit dem Bild, das die Engländer plötzlich, so kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft, von uns haben. Nein, jetzt kommt keine Grusel-, sondern eine Erfolgsmeldung: Nix mehr mit Nazis, okay, nur noch ganz bisschen. Mehrheitlich gesehen aber ist Deutschland jetzt für Engländer über-cool.

Wer jetzt das „über“ typisch deutsch als „zu sehr“ oder „zu viel“ auslegt, der tappt in die Sprachfalle. Nein, „über“ ist nicht schlecht, wie beispielsweise in „sich übergeben“, sondern gut, siehe „überragend“. Jede Engländerin, die etwas auf sich hält, benutzt mindestens einmal am Tag ein Zusammengeschnipsel aus einem englischen Wort und „über“. Einige Beispiele: Vogue-Redakteurinnen sind „über-glam“ gekleidet, soll heißen: fast unerreichbar glamourös. Kylie Minogue singt ein Lied, dass als „über-catchy“ bezeichnet wird, sie trällert also einen Ohrwurm. Deutsche Autos sind „Über-Autos“. Vorsprung durch Technik und so. Zufall? Mitnichten! Großbritannien wird von einer deutsch-motivierten PR-Kampagne überrollt. In der Londoner U-Bahn hängen Poster aus, auf denen die deutsche Botschaft zusammen mit Air Berlin Touristen nach Germany locken will, weil man da so viel Spaß haben kann. Angeblich. Zeitungen hauen Beilagen zum Thema Deutschland raus, Kaufhäuser schmücken ihre Schaufenster mit deutschen Produkten. Auslandskorrespondenten gestehen, Berlin immer schon gemocht zu haben.

Die Über-Trademark

Wir sind ja schon Deutschland. Nun soll auch der Rest der Welt, na ja, nicht ganz Deutschland werden, aber wenigstens ein bisschen. So wünscht es sich zumindest das Londoner Luxuskaufhaus Harrods. Im aktuellen Katalog nämlich, der sich ausschließlich mit deutschem Design beschäftigt, wird behauptet, dass mit dem Zweifel endlich Schluss sein sollte – dass Deutschland „truly über alles“ sei. Moment, haben wir das nicht schon mal gehört? Stößt das nicht ein wenig negativ auf, weil es aus der ersten Strophe der Nationalhymne stammt? Und die darf, und vor allem: will man ja nicht mehr singen.

Einen Zusammenhang mit Nationalismus aber sieht Graham Parker, der verantwortliche Redakteur und Autor jener Zeilen, nicht. Eher glaubt er, einem Trademark-Slogan zu folgen. Einem, den eben jeder kennt. So weit hat er auch Recht, aber wir geben uns doch gerade Mühe, ihm nicht zu folgen. „Vor allem im Modejournalismus ist ‚über‘ ein Wort, dass Menschen wiedererkennen werden“, entschuldigt sich Parker gegenüber der taz und fügt hinzu: „Es ist das neue ‚super‘“. Berlin, so das Werbeheft, sei sowieso der neue Art-Hotspot. Die Über-Stadt der Kunstschaffenden. Die Stiftung Warentest mag vielleicht an den WM-Stadien rummäkeln, Harrods findet sie wunderbar. Design und Technologie in trauter Eintracht. Diese Über-Stadien werden aber von der deutschesten aller Backwaren in den Schatten gestellt – von der Brezel. Sie, so das Heft, sei das hübscheste Design, dass in den letzten 50 Jahren in Deutschland entstanden wäre. Hm, ist die Brezel nicht etwas älter? Egal, Lob stinkt nicht.

Das Wort „über“ vermittelt Kompetenz und Kraft, also zwei Dinge, die wir uns gerade gar nicht zutrauen. Endlich ist die Zeit vorbei, in der das Bild vom Über-Hühnen vorherrschte. Heute ist der Deutsche, dank ordentlicher WM-Propaganda, der freundliche europäische Nachbar, ach was, Bruder! Keine Rede mehr von Handtüchern auf der Sonnenliege. Auch die deutsche Frau wird nicht mehr qua Achselhaar definiert, sondern über ihren trashigen, unverwechselbaren Berlin-Style.

Die neuen Deutschen, die Über-Deutschen, sind cool, trendy, die arme, aber kreative Verwandtschaft, die für die anderen Über-Autos baut, Über-Modells in die Welt schickt.

Der exklusive Umlaut

Einen Teil der Faszination trägt sicher auch der unbekannte Umlaut. „Über“ – so richtig weiß niemand, wie er es aussprechen soll, aber das macht es auch exklusiv. Musikgruppen wie Mötley Crüe, Blue Öyster Cult oder Motörhead haben das erkannt. Sie nutzen den Umlaut, um ihren Namen markenhafter zu machen, unverwechselbarer. Und das hat nichts mit der Fußball-Weltmeisterschaft zu tun.

Wenn „über“ der letzte Schrei ist, dann tritt der neue Germanizismus an die Stelle von Latein. Das hat ebenfalls niemand richtig verstanden, aber mal ein Fremdwort in die Konversation einfließen zu lassen, hat etwas furchtbar Intellektuelles. Und wenn es nur das Wort neue Füllwort „über“ ist.