Zwang zur Reform

Nach Protesten hunderttausender SchülerInnen für eine Bildungsreform in Chile lenkt die Regierung ein – ein wenig

PORTO ALEGRE taz ■ Chiles SchülerInnen haben ihren Streik fortgesetzt. 650.000 waren es vorgestern, unterstützt von 300.000 Studierenden. Auch wenn sich das Medieninteresse zunächst auf die Randale in der Hauptstadt Santiago und in Concepción konzentrierte, wo es über 280 Festnahmen und 28 Verletzte gab – im ganzen Land überwogen die friedlichen Kundgebungen. Und die Bewegung wächst: Immer mehr Gewerkschaften schließen sich der Forderung nach gründlicher Reform des Bildungssystems an.

Der Brasilianer Chico Whitaker, einer der Gründungsväter des Weltsozialforums, ist begeistert: „Diese Bewegung entspricht genau unserem Traum: keine Anführer, keine Geführten, mit Fantasie und einer horizontalen Organisation. Die Gesellschaft zwingt die Regierung zu Reformen.“ Die Koalition aus Sozial- und Christdemokraten tut sich schwer damit. Die Proteste begannen Ende April, doch noch drei Wochen später versuchte sie Bildungsminister Martín Zilic kleinzureden. In der Grundsatzrede vom 21. Mai, in der Präsidentin Michelle Bachelet die „vier Achsen“ ihrer Regierung vorstellte, erwähnte sie die Bildungspolitik mit keinem Wort.

Erst letzte Woche, nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen DemonstrantInnen in Santiago, stellte sie ein Sofortprogramm vor: 500.000 zusätzliche Essensrationen, mehr Zuschüsse für die Busfahrkarten und die Zulassungsprüfungen für die Universität, schließlich Grundsatzreformen im Bildungsgesetz.

Dieses Gesetz mit Verfassungsrang hatte Diktator Augusto Pinochet Tage vor seinem Abgang im März 1990 unterzeichnet. Damals wurde die Verwaltung der staatlichen Schulen den Gemeinden übertragen, Privatschulen wurde der Zugang zu üppigen Subventionen eröffnet. Inzwischen gibt es mehr teure Privatunis als öffentliche Universitäten. Gegen diese Kommerzialisierung der Bildung richten sich die Proteste vor allem, doch für eine Verfassungsänderung reicht die Regierungsmehrheit im Parlament nicht aus.

Die SchülerInnen fordern von Bachelet mehr Transparenz und die Beteiligung der Betroffenen. Beim schnell zusammengeschusterten Gesetzentwurf, den die Regierung gestern auf den Weg brachte, fehlte dies noch, doch in der dazugehörigen Arbeitsgruppe dürfen sie nun mitreden. GERHARD DILGER