„Die Lehrerausbildung hinkt hinterher“

Textaufgaben können nur mit entsprechendem kulturellem Kapital verstanden werden, sagt Meral Dollnick von der Vereinigung türkischer LehrerInnen. Die Lehrerausbildung sei einer ethnisch gemischten Gesellschaft nicht gewachsen

taz: Frau Dollnick, bei den erstmals durchgeführten Prüfungen des Mittleren Schulabschlusses (MSA) gab es Probleme im Fach Mathematik. Vor allem die Textaufgaben gelten als zu kompliziert. Sind die wirklich für einen Zehntklässler nicht lösbar?

Meral Dollnick: Wenn diese sprachlichen Strukturen geübt worden sind, sind solche Aufgaben kein Problem. Allerdings können das nur Kinder beantworten, die ein bestimmtes kulturelles Kapital mitbringen. Kinder, die aus Migrantenfamilien stammen, werden erst einmal fragen, was bestimmte Begriffe wie beispielsweise Kelterung oder Maische überhaupt bedeuten.

Wieso haben Migrantenkinder Probleme, solche Textaufgaben zu lösen?

Weil die sprachlichen Strukturen in den Aufgaben nicht die gleichen sind, die sie täglich hören. Diese unterrichtsrelevante Fachsprache hat bestimmte syntaktische Strukturen. Wenn diese in solchen Textaufgaben gehäuft auftreten, können die Kinder schlecht damit umgehen, da dies an den Schulen zu wenig geübt wird. Auch bei deutschsprachigen Kindern gibt es dieses Problem, da manche Kinder bestimmte sprachliche Strukturen in ihren Familien nicht hören.

Migrantenkinder und deutsche Kinder besuchen die gleichen Grundschulen. Warum haben sie trotzdem einen unterschiedlichen Wortschatz?

Das kulturelle Kapital in sozioökonomisch schwachen Familien ist ein anderes. Die Schule erwartet, dass die Kinder zum Beispiel schon Bücher gelesen haben, wenn sie eingeschult werden. Aber bestimmte Kinder bringen diese Voraussetzungen leider nicht mit. Deshalb ist es die Aufgabe der Schule, diese Kinder vorzubereiten.

Reagieren die Schulen richtig auf diese Probleme?

Die Schulen können gar nicht richtig auf diese Probleme reagieren, da die Lehrerausbildung immer noch den gesellschaftlichen Verhältnissen hinterherhinkt. Die Vorstellung einer ethnisch homogenen Bevölkerung spiegelt sich bis heute in der Lehrerausbildung. Trotz aller Reformen wurde das Ausbildungsprofil der Lehrer den gesellschaftlichen Gegenbenheiten nicht angepasst. Die Lehrer kommen in die Schule und sind auf die Kinder dort kaum vorbereitet. Ein Mathelehrer müsste bei solchen Textaufgaben sofort sehen können, wo die Hürden sind, bei welchen Begrifflichkeiten die Kinder Probleme haben könnten. Das können Lehrer bis jetzt nicht leisten, weil sie die Ausbildung nicht haben.

Was sind Ihre Lösungsvorschläge?

Die Lehrerausbildung muss den Realitäten einer ethnisch gemischten Gesellschaft angepasst werden. Die Lehrer brauchen insbesondere im Bereich der Begriffsbildung Fortbildungen. Wir brauchen außerdem Lehrer mit Migrationshintergrund, die hier studiert haben. Wir müssen die Kinder sprachlich da abholen, wo sie stehen.

Interview: SEBASTIAN LEHMANN