Zwischen zwei Jobs mal schnell ins Café

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 1): Unsichere Arbeitssituationen prägen in Berlin ganze Stadtteile. Einige Betroffene sehnen sich schon nach der einst kritisierten Festanstellung. Für viele gehört die Freiheit aber zum Lebensgefühl der Innenstadtbezirke

von RICHARD ROTHER

„Montagmorgen, neue Woche / und ab geht’s wieder zur Maloche / dieselben Fratzen, dasselbe Gelaber / ja, du liebst dein Arbeitslager.“ So sang vor mehr 20 Jahren die linksradikale Hamburger Punkband Slime. Jeden Morgen früh zur Arbeit zu gehen – nichts war, vom Staat vielleicht abgesehen, den radikalen Linken in den 80er-Jahren mehr verhasst als die fordistische Normierung der Gesellschaft, in der sie groß geworden sind. Trotz Werften- und Stahlkrise, trotz Thatcher oder des Streiks für eine 35-Stunden-Woche – eine Sicherheit war damals in Westdeutschland für breite Bevölkerungsschichten immer noch unerschütterlich: Wenn man will, kriegt man irgendwie einen halbwegs bezahlten Job. Und so wagten viele Mittelstandskinder den – meist nur temporären – Ausbruch: Sie wurden Punks, gründeten Kollektivunternehmen oder Landkommunen.

Heute – nach jahrelangen Diskussionen über Selbstausbeutung und Scheinselbstständigkeit, nach rigorosem Sozialabbau wie Hartz IV und Rentenreform, nach dem Platzen der New-Economy-Blase und den falschen Träumen des selbst bestimmten Lebens unter den knallharten Bedingungen des Marktes – sehnen sich viele älter gewordene Linke nach jener Sicherheit, die sie bei ihren Eltern noch als spießig verachteten. Denn das, was sie vorfinden, ist vor allem eines: unsicher. Oder auch: prekär. Ein Begriff, hinter dem sich überzeugte Linke ebenso wiederfinden können wie die Vertreter der „Generation Praktikum“.

Tagelöhner und Arbeitskräfte auf Abruf gibt es mindestens so lange, wie es den Kapitalismus gibt. Neu ist nur: Nach zwei, drei Jahrzehnten relativer sozialer Sicherheit in Westdeutschland – einer Zeit, in der der Kapitalismus im Osten eine ideologische und reale Konkurrenz hatte – erfassen das Gefühl und die Wirklichkeit von Unsicherheit immer weitere Bevölkerungsschichten: den Bauarbeiter ebenso wie den Gelegenheitsjobber, die Webdesignerin und den Rechtsanwalt, den Wachmann, die Sozialarbeiterin, die Putzfrau, den Wissenschaftler, den Taxifahrer, die illegale Kellnerin und die Callcenter-Mitarbeiterin.

Fraglos ist es ein Unterschied, ob sich einer mit Jobs für 3 Euro pro Stunde durchs Leben hangelt oder ob Honorarsätze von 300 oder gar 3.000 Euro täglich winken. Zeiten relativer Unsicherheit lassen sich besser überstehen, wenn man sich auf einem guten Polster bequem machen kann. So ist es auch weit hergeholt, von einem neuen Prekariat – in Anlehnung an das Proletariat – zu sprechen, das als Akteur sozialer Kämpfe auf die Weltbühne getreten sein soll, wie manche Linke behaupten. Das Phänomen Unsicherheit mit all seinen sozialen, psychischen und familiären Folgen trifft aber auch Menschen, die immer wieder einen gut bezahlten Job ergattern. Bleibt ein Auftrag aus, kann es schnell vorbei sein mit dem gewohnten Lebensstandard.

Dass die zunehmende soziale Unsicherheit kein Randgruppenphänomen ist, sondern ein zentrales, wird in kaum einer anderen deutschen Stadt so deutlich wie in Berlin. Hier arbeitet gerade einmal jeder dritte Berufstätige in einem so genannten Normalarbeitsverhältnis, also auf einer unbefristeten Vollzeitstelle, fand das Wissenschaftszentrum Berlin WZB bereits vor einigen Jahren heraus. Alle anderen haben Mini- oder Teilzeitjobs oder sind (Schein-)Selbstständige oder Leiharbeiter.

Mittlerweile ist das Leben ganzer Stadtteile davon geprägt: Die urbanen Tagelöhner bevölkern tagsüber Cafés, Parks und Spielplätze – nicht nur aus Spaß oder Langeweile, sondern auch in der Hoffnung, Bekannte zu treffen und an neue Aufträge zu kommen. Man sieht sich, man zeigt sich, man bleibt im Gespräch – und so möglicherweise im Geschäft. Ein Geschäft, von dem manche, zumindest vorübergehend, gut leben können.

Und: Zur Zufriedenheit zählt für viele nicht nur die materielle Sicherheit, sondern auch die individuelle Freiheit – zum Beispiel die, nicht jeden Morgen um halb sieben aufstehen zu müssen. So lässt sich erklären, dass es in Berlin viele Mittelschichtsmenschen gibt, die das sichere, aber langweilige Leben in der Provinz zugunsten der Unsicherheit in Kreuzberg und Schöneberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain aufgegeben haben. Nicht zu vergessen das Zugehörigkeitsgefühl: Wer sich als Teil einer kreativen und coolen Szene zählen kann, hat einen identitätsstiftenden Lebensinhalt gefunden – wie der Kleingärtner in der Laubenpieperkolonie oder der Jugendtrainer in einem Kreisklasseverein.

Dass Berlin ein Vorreiter in der Prekarisierung wurde, hat zwar historisch-soziologische, vor allem aber wirtschaftliche Ursachen. Ost- und Westberlin zogen in den 70er- und 80er-Jahren aus jeweils unterschiedlichen Gründen nonkonforme Menschen an: In Westberlin waren es vor allem Wehrdienstflüchtlinge, die Altbautenquartier im Osten galten als einer der wenigen Orte, in denen man zu DDR-Zeiten etwas freier als im Rest der Republik atmen konnte.

All diese Menschen waren in der Stadt, als mit dem Fall der Mauer der wirtschaftliche Niedergang begann. Einerseits führte das liberale und kreative Image Berlins in Ost und West dazu, dass weitere Studierende und (Lebens-)Künstler angezogen wurden. Andererseits hatte der massive Stellenabbau in der Industrie und im öffentlichen Dienst zur Folge, dass immer weniger traditionelle Jobs zur Verfügung standen. Waren zunächst vor allem Industriearbeiter, Handwerker und Angestellte betroffen, so verschärfte der harte Sparkurs der letzten zehn Jahre auch die Arbeits- und Lebensbedingungen des alternativ-akademischen Milieus: Subventionen für Vereine und soziale Einrichtungen wurden gekürzt, Stellen in den Verwaltungen und an der Uni gestrichen. Der kurze Aufschwung der New Economy sorgte für eine vorübergehende Entspannung. Umso tiefer war dann der Sturz, nach dem Platzen der Blase – oft bis zu Hartz IV.

Gegenüber Industrie- und Bauarbeitern, illegalen Tellerwäschern und Putzfrauen ist dieses Milieu aber immer noch im Vorteil: Wer ein bisschen Startkapital zusammenkratzen konnte, machte eine Kneipe oder ein Hostel auf. In Parteien, Verbänden oder Medien bietet die Bundeshauptstadt selbst manchen Berlinern eine Chance, die zu Beginn der 90er-Jahre für Bonn als Hauptstadt eintraten. Selbst als Langzeitarbeitsloser kann man in Berlin besser leben als anderswo, weil die Lebenshaltungskosten vergleichsweise moderat sind. Auch wird hier nicht gleich geächtet, wer keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgeht.

Heute profiliert sich sogar ein junger Berliner Buchautor mit dem Thema „Prekäres Leben“. Das „Gefühl der grundsätzlichen Unsicherheit in Job und Privatleben ohne Aussicht auf Besserung“ präge die Generation der heute 20-Jährigen, sagt der gleichaltrige Ric Graf, der gerade sein Buch „iCool“ veröffentlicht hat. Coolness, Oberflächlichkeit, Markenfixierung, Zukunftsängste würden in der Gesellschaft immer wichtiger. Zwar sei seine Generation nicht anders als andere. „Nur: Wir kennen kein anderes Leben. Wir sind damit groß geworden.“