Zärtlichkeit und Empathie

Eine Ahnung von Freiheit trotz allem: Eng sind die sozialen Schranken, an denen sich die Figuren des britischen Regisseurs Ken Loach reiben. Zwei Kinos zeigen seine Filme zu seinem 70. Geburtstag

VON CRISTINA NORD

Es gibt in den Filmen Ken Loachs einen ganz besonderen Augenblick: eine Szene, in der die Leidenserfahrung einer Figur mit großer Intensität hervorbricht. In „Ladybird, Ladybird“ (1993) ist es die Klage der von Crissy Rock gespielten Protagonistin Maggie. Maggie ist allein erziehende Mutter, das Jugendamt hat ihr das Sorgerecht entzogen. Alle ihre Versuche, die Kinder zurückzuholen, scheitern, schlimmer noch, als sie in Jorge (Vladimir Vega) einen Gefährten findet und wieder schwanger wird, wird ihr das Neugeborene weggenommen. Der Zorn und der Schmerz hierüber bricht in einem endlos anmutenden Monolog aus ihr heraus; es ist ein Kontrollverlust für die Figur und für den Film zugleich, der ab diesem Moment jedes Maßhalten aufgibt.

In „Bread and Roses“ (2000) gehört dieser intensive Augenblick einer Nebenfigur, Rosa, der Schwester der Protagonistin Maya. Rosa (Elpidia Carrillo) ist aus Mexiko nach Los Angeles gegangen, später hat sie die jüngere Maya (Pilar Padilla) nachgeholt. Über weite Strecken des Films wirkt Rosa wie die Agentin des Realitätsprinzips, da sie den Idealismus der jüngeren Schwester desavouiert. Sie bindet deshalb keine Sympathien – bis zu dem Moment, in dem sie beschreibt, wie ihr Leben verlaufen ist: Um Mayas Schlepper zu bezahlen und den in Mexiko verbliebenen Teil der Familie zu ernähren, ist Rosa nicht nur putzen gegangen, sondern auch auf den Strich.

Vor ihrem Monolog weiß das niemand, die Schwester nicht und nicht der Zuschauer. Umso eindringlicher artikuliert sich der Schmerz über das verpfuschte Leben – ein Moment schockhafter Einsicht und von so großer Intensität, dass von den Versehrungen, die die Figur erlitten hat, tatsächlich etwas bleibt: ein inkommensurabler Rest, der sich einer Auflösung im Gefüge der Spielfilmdramaturgie entzieht. Es mag fünf Jahre her sein, dass ich „Bread and Roses“ gesehen habe! Der Überschuss, mit dem sich Rosas Krise artikuliert, ist mir in Erinnerung geblieben.

Ken Loach, der britische Regisseur mit dem Herz fürs Proletariat und dessen Erben, wird morgen 70 Jahre alt. Anlass genug für zwei Berliner Kinos, das fsk und das Lichtblick, seine Arbeiten aus den letzten zwölf Jahren wiederaufzuführen, von „Land and Freedom“ (1994) bis zu „Ae Fond Kiss“ von 2004. Der jüngste Film, „The Wind that Shakes the Barley“, ist nicht dabei, er feierte im Mai Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Cannes und brachte Ken Loach die Goldene Palme. Zum Ausgleich gibt es ein Frühwerk: „Kes“ aus dem Jahr 1969.

Loach besitzt eine große Gabe: Er veranschaulicht in seinen Filmen, wie Figuren in sozialen Verhältnissen verortet sind. Nicht der Einzelkämpfer, das über alle Widernisse triumphierende Individuum interessieren ihn, sondern die Figur, der die Umstände, in denen sie lebt, Schranken setzen. In „Bread and Roses“ versucht Maya, sich und ihre Kollegen zu einem Arbeitskampf zu motivieren, obwohl sie nicht einmal Aufenthaltspapiere hat und deshalb in einer schwachen Position gegenüber ihren Arbeitgebern ist. In „My Name is Joe“ (1998) schafft es ein von Peter Mullan gespielter Alkoholiker, trocken zu werden. Er trainiert ein Fußballteam junger Drop-outs und beginnt eine zögerliche Liebesgeschichte – bis ihn die Vergangenheit einholt. In „The Navigators“ (2001) geht es um eine Gruppe von Bahnarbeitern in South Yorkshire, die sich nach der Privatisierung von British Railways neuen Arbeitsbedingungen stellen. Ihre über die Jahre gewachsene Expertise und die Liebe (!) zu ihrer Tätigkeit zählen nicht mehr gegenüber dem alleinigen Kriterium der Effizienz. Dabei ist Loach nicht so naiv, diejenigen, die gegen die ungerechten Verhältnisse aufbegehren, einen sicheren Hort der Solidarität schaffen zu lassen.

Seine Filme haben oft eine düstere Note. Sie schauen hin, wenn die eben noch Unterdrückten zu Macht gelangen, und sie beobachten, wie soziale Zwänge zu persönlichem Verrat und unüberwindlichen Zerwürfnissen führen – nicht im Modus einer Anklage, sondern eher im Bewusstsein der Ausweglosigkeit.

Dabei lässt Loach seine Figuren nicht wie Labortiere in einer Versuchsanordnung agieren. Er filmt aus einer Position der Empathie heraus. Das schlägt sich in der Arbeit der Schauspieler nieder: Wie Peter Mullan den Alkoholiker in „My Name is Joe“, Crissy Rock die unglückliche Mutter in „Ladybird, Ladybird“ oder Robert Carlyle den Busfahrer in „Carla’s Song“ (1996) geben, bezeugt das Gelingen einer Schauspielweise, die Spontaneität mit Präzision verbindet und daraus Dringlichkeit und Aussagekraft bezieht. Man mag sich an Loachs Filmen reiben, weil sie bisweilen mit schematischen Arrangements arbeiten oder – wie bei dem Ausflug nach Nicaragua in „Carla’s Song“ – einer romantischen Sicht auf die Revolution und der Verklärung Lateinamerikas zuneigen. Die Zärtlichkeit aber, die der britische Regisseur seinen Figuren entgegenbringt, und die Ahnung von Freiheit, die allem zum Trotz in den Filmen steckt, wiegen das doppelt auf.

Ken-Loach-Filmreihe, 15. bis 21. Juni, im Lichtblick und fsk, Programm und Termine unter www.fsk-kino.de und www.lichtblick-kino.org