Grundrechte nur auf dem Papier

AUS GUATEMALA-STADT BERND PICKERT

Und Guatemala? Als vor sechs Wochen die Generalversammlung der Vereinten Nationen die 47 Mitgliedsländer des neuen Menschenrechtsrats wählte, da schaute die Welt auf Länder wie Saudi-Arabien, auf China, auf Kuba. Ohne Diskussion und mit 142 Stimmen gewählt wurde hingegen Guatemala. Dabei ist die Lage der Menschenrechte in dem mittelamerikanischen Land katastrophal.

Jeden Tag werden 20 bis 30 Menschen ermordet, so gut wie nie werden die Täter gefasst. Sie kommen, das ist ein offenes Geheimnis, zumindest teilweise aus den Reihen von Militär und Polizei. 2.500 Frauen sind in den letzten fünf Jahren auf zum Teil bestialische Weise umgebracht worden. Nur in 14 Fällen gab es Urteile, davon zwei Freisprüche.

Die Straflosigkeit hat System, und das wurzelt in einem Justizwesen, das nicht funktioniert, einer Polizei, die selbst der Innenminister für „zu 70 Prozent korrupt“ hält, schweigenden Medien – und in der Vergangenheit.

Fast zehn Jahre ist es her, dass mit den Friedensverträgen zwischen der damaligen Regierung und der linken Guerilla URNG ein 36 Jahre währender Bürgerkrieg zu einem Ende kam. In über dreieinhalb Jahrzehnten waren mehr als 200.000 Menschen Opfer von Armee, Polizei und den paramilitärischen „Zivilpatrouillen“ geworden. 200.000 Tote – mehr als 80 Prozent von ihnen Maya-Indígenas, 30.000 gelten bis heute als „verschwunden“. Erst jetzt, im Mai 2006, hat die Regierung eine Kommission eingesetzt, um nach ihnen zu suchen.

Unbehelligte Täter

Das tun die MitarbeiterInnen der Stiftung für forensische Anthropologie schon seit Jahren. Doch ihre Hoffnung, durch das Auffinden der Massengräber auch Gerechtigkeit für die Opfer zu erreichen, wird sich wohl nicht erfüllen. „Wir graben nur noch mechanisch die Knochen aus, schreiben einen Bericht und gehen zum nächsten Fall über“, berichtet Fernando López, der als Anwalt für die Stiftung arbeitet. Zwar können die Angehörigen ihre Toten nun endlich richtig begraben, aber die Täter bleiben unbehelligt, ihre Strukturen haben überlebt.

Besonders seit vor sechs Jahren die Regierung von Präsident Alfonso Portillo an die Macht gekommen ist, registrierten Menschenrechtsverteidiger, dass die alten Kräfte plötzlich wieder sehr aktiv sind. Portillo gehört der Partei des ehemaligen Militärmachthabers Ríos Montt an. Die Bedrohungen, Ermordungen und Einschüchterungen von GewerkschafterInnen, JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen haben stark zugenommen – die Poderes Paralelas, die Parallelkräfte, haben Guatemala wieder fest im Griff.

Auch in den letzten zwei Jahren, seit der konservative Präsident Oscar Berger regiert, hat sich nichts geändert. 2004 registrierte die Nationale Menschenrechtsbewegung MNDH 142 Angriffe gegen Menschenrechtsaktivisten, 2005 waren es schon mehr als 200, Tendenz steigend. Die Organisation Peace Brigades International, die in Guatemala mit einem neunköpfigen Team versucht, durch internationale Begleitung bedrohte Menschen zu schützen, kann längst nicht mehr alle Anfragen bearbeiten; sie kommt einfach nicht mehr nach.

Unter Präsident Berger hat sich eigentlich vor allem eins verbessert: Guatemalas Image. Prominente Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung erhielten plötzlich Posten in der Regierung, etwa die indigene Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, die als „Botschafterin des guten Willens“ für die Regierung arbeitet. Oder Frank La Rue. Der renommierte Menschenrechtler, der während der Militärregimes zwölf Jahre im Exil lebte und als Vorsitzender der von ihm gegründeten Organisation CALDH die Verfolgung von Menschenrechtsverletzern in Guatemala vorantrieb, ist heute Chef der Menschenrechtskommission des Präsidenten, Copredeh. Seine ehemaligen MitstreiterInnen haben sich längst von ihm distanziert: „Wenn er wirklich geglaubt hat, aus dem Innern der Regierung etwas verändern zu können, hätte er längst zurücktreten müssen“, sagt etwa Andrea Barrios aus dem Büro von CALDH.

Doch für das Image der Regierung Berger ist La Rue Gold wert. Österreichs Botschafterin in Guatemala etwa, Monika Gruber-Lang, die wegen der Ratspräsidentschaft auch in Guatemala die Geschäfte der Europäischen Kommission führt, sieht kein Problem darin, dass Guatemala in den UN-Menschenrechtsrat gewählt wurde: „Man muss anerkennen, dass es in dieser Regierung sehr gute Leute gibt, die sich wirklich Mühe geben“, sagt sie.

Doch die Ergebnisse sind äußerst mager. Die UN-Menschenrechtsbeauftragte Louise Arbour, die Ende Mai Guatemala besucht hat, sagte in ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme: „Es hat keine signifikanten Fortschritte im Kampf gegen die Straflosigkeit oder beim Ausschalten geheim operierender Gruppen gegeben. Insbesondere Menschenrechtsverteidiger und Angehörige des Justizwesens sind weiter andauernden Bedrohungen, Erpressungsversuchen und manchmal tödlichen Angriffen ausgesetzt.“

Und nicht nur sie. Denn den Konflikt in Guatemala nur als eine Auseinandersetzung zwischen einem irgendwie renitenten Sicherheitsapparat und den Menschenrechtsorganisationen zu beschreiben, führt in die Irre. Stattdessen bestehen die ungerechten Strukturen fort, allen voran die unglaublich ungerechte Verteilung des Landes. Dies zu ändern versuchten schon 1944 bis 1954 die linken Reformregierungen der Präsidenten Juan José Arévalo und Jacobo Arbenz, der mit einem von der CIA organisierten Putsch gestürzt wurde. Damals wie heute besaßen rund zwei Prozent der Bürger etwa 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Dazu kommt der Rassismus: Wie vor Jahrzehnten schon ist die indigene Bevölkerungsmehrheit fast vollständig vom öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen.

An den Schnittstellen des Landkonfliktes kommen beide Faktoren zusammen, wie zum Beispiel auf der Finca Clermonth im Department San Marcos. Das Land der Gutsherrin mit dem wohlklingenden Namen Silvia Eugenia Widman Lagarde de Díaz bewirtschaften 49 Arbeiter. Insgesamt haben ihre Angestellten mit ihrem mageren Verdienst auf der Kaffeefinca 300 Menschen zu ernähren. Vor fünf Jahren entschied die Patrona, eine Schwägerin von Präsident Berger, ihren mozos nur noch 30 statt 60 Euro Monatslohn zu zahlen. Begründung: die sinkenden Kaffeepreise. Die Arbeiter protestierten und bildeten eine Gewerkschaft. Das sah die Patrona als „schweren Verstoß“, entließ alle und rief die Polizei, um die seit drei Generationen hier lebenden Familien aus ihren Häusern auf dem Finca-Gelände zu vertreiben. Doch die Arbeiter kamen wieder und zogen mit Unterstützung der Landarbeitergewerkschaft MTC vor Gericht. Der Streit ging durch alle Instanzen, inzwischen haben die Arbeiter vor dem Obersten Gerichtshof Recht bekommen – theoretisch. Denn die Patrona, verurteilt zur Wiedereinstellung und Nachzahlung von Löhnen in einer Höhe von umgerechnet 500.000 Euro, zahlt nicht.

In einem Rechtsstaat kommt dann der Gerichtsvollzieher – in Guatemala nicht. Deshalb entschieden die Arbeiter vor einigen Monaten, die Finca zu besetzen. Und da stehen sie nun, mit selbst geschnitzten Holzknüppeln und ihren Macheten in den Händen, vor dem schweren schwarzen Stahltor, das den Wohnbereich der Gutsherrin abschottet. Sie wissen kaum noch weiter. Die jungen Männer sind ohnehin schon gegangen, arbeiten im nahen mexikanischen Chiapas oder haben einen Weg in die USA gefunden. Die noch hier sind, etwa ihr Sprecher José Ramos, 49, verzweifeln langsam. „Uns fehlen Lebensmittel – und vor allem Arbeit“, sagt er. Mehrere Versuche haben sie unternommen, auf Teilen des Landes Lebensmittel für sich selbst anzubauen. Doch dann kam die Polizei, und anschließend zerstörten von der Patrona bezahlte Leute die Ernte.

Vor zwei Monaten hat die Patrona ihnen auch den Strom abgestellt. Ohne Lebensmittelspenden der MTC könnten sie nicht überleben. Zwar laufen Verhandlungen mit dem Ziel, die Lohnschulden in Ackerland zu bezahlen. Doch die Zeit läuft gegen die Arbeiter, und die Patrona weiß das. Über 1.000 solcher Konflikte sind derzeit im Land anhängig – der Ausgang ist überall ähnlich, die Leidtragende sind die Armen.

Ein Prozent Gewinnabgabe

Dabei sieht auf dem Papier alles so gut aus. Die wesentlichen internationalen Menschenrechtsabkommen – mit Ausnahme ausgerechnet der Anti-Folter-Konvention – hat Guatemala unterzeichnet und ratifiziert. Dies war ein Hauptkriterium der Menschenrechtsorganisationen amnesty international und Human Rights Watch für die Wahl von Ländern in den neuen Menschenrechtsrat. Auch die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die die Rechte indigener Völker schützen soll, hat Guatemala schon vor zehn Jahren ratifiziert.

Doch die Realität sieht anders aus. Eine Woche vor Menschenrechtskommissarin Arbour hatte der UN-Sonderberichterstatter für indigene Völker, Rodolfo Stavenhagen, Guatemala besucht. Auch er gestand der Regierung guten Willen zu – konnte allerdings kaum Veränderungen gegenüber der von ihm selbst als zutiefst rassistisch beschriebenen Situation vier Jahre zuvor feststellen. Vielmehr hat sich seither ein neues Konfliktfeld aufgetan, das die Lebensbedingungen vieler Indígenas unmittelbar bedroht: Seit Expräsident Portillo vor zwei Jahren Bergbaulizenzen an ausländische Unternehmen vergeben hat – allen voran die US-kanadische Glamis Gold beziehungsweise ihre guatemaltekische Tochter Montana Exploradora –, fürchten viele Gemeinden um ihre Existenz. Vor allem Edelmetalle will Glamis Gold abbauen, und zwar im landschaftszerstörenden Tagebau. Würde Guatemala tatsächlich die ILO-Konvention 169 achten, hätten die indigenen Einwohner vorher gefragt werden müssen. Aber davon war keine Rede. Für nur ein Prozent Gewinnabgabe an Guatemala hat Portillo die Lizenzen vergeben, jetzt laufen die Bewohner der betroffenen Gemeinden gegen die Minengesellschaften Sturm.

Wieder greifen die üblichen Mechanismen: AktivistInnen von Umwelt- und Indigenenorganisationen erhalten anonyme Todesdrohungen, ihre Büros werden verwüstet, manche werden mit an den Haaren herbeigezogenen Gerichtsverfahren überzogen. Und die Polizei knüppelt die Menschen nieder, wenn sie – wie bei einer 24-stündigen Blockade im Januar 2005 – versuchen, den Fahrzeugen des Minenkonzerns die Zufahrt zu verweigern. Rechtsstaat in Guatemala, Mitgliedsland des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen.

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