Fußball ist kein Nike-Spot

Ist die WM fußballerisch bisher eine Enttäuschung? Nein. Sie ist Realität, das gilt auch für Brasilien

VON PETER UNFRIED

Es kommen jetzt neuerdings Menschen und fragen, ob diese WM eine Enttäuschung sei. Kommt drauf an, was man von ihr will. Viele WM-Touristen wollten Party. Sie haben Party und amüsieren sich bestens. So sehr, dass sich schon Spieler davon gestört fühlten. Das ist Gruppe 1. Um aber die Milliarden an den Fernsehern (Gruppe 2) zu bewegen und zu erregen, braucht es: klare Botschaften und eindrückliche Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis meißeln. Zum Beispiel: Brasilien ist überirdisch. Ist nicht.

Brasilien ist ein Anwärter auf den Weltmeistertitel, aber es spielt Fußball wie andere auch. Ob Ronaldinho zu tief spielt und deshalb weder er offensiv optimal funktioniert noch Brasiliens Defensive, erreicht Milliarden nicht. Tostao, der Weltmeister von 1970, sagte in der SZ, das Problem sei, dass das Team von Marketingabteilungen – also auch der Weltpresse – überhöht worden sei. Nun sei man „in der Realität angekommen“. Eine WM ist (noch) kein Nike-Spot.

Damit sind wir bei Gruppe 3, das sind die etwas elitären WM-Rezipienten, die nicht auf irgendetwas „Großes“ warten, sondern sich detaillistisch dafür interessieren, was passiert.

Nämlich: Die WM hat ihr Viertelfinale mit den sechs alten und offenbar neuen Fußballweltmächten: Brasilien, Argentinien, Italien, Deutschland, Frankreich, England. Die Erwartung hat sich bisher nicht erfüllt, auch die Spitzenteams würden – außer Frankreich und wie Deutschland – nach der Vorrunde einen Gang zulegen. Aber zumindest Zinedine Zidane hat mit seinem Treffer zum 3:1 gegen Spanien auch seine Schuldigkeit als Pop-, Emo- und Trivialthema erfüllt.

Die WM ist längst nicht mehr die Weltausstellung des Fußballs, die Neuerungen bringt die Champions League, zuletzt waren das One Touch, (Premier-League-)High Speed und das exzeptionelle Passspiel von Barcelona. Dort, und bei Arsenal und Chelsea, arbeiten die besten Trainer mit den besten Spielern aus allen Ländern täglich an der Verfeinerung eines internationalen Stilmixes. Nicht nur der Bundesligatrainer Jürgen Klopp ist daher wenig überrascht, dass er bei der WM „nichts Stilbildendes auf dem Platz“ gesehen hat.

Man spielt hinten mit vier, mal mit drei, im Mittelfeld spielt man mit Raute oder auf Linie. Und dass ein 4-5-1 nicht defensiver ist als ein starres 4-4-2, sondern manchem Team mehr Möglichkeiten bietet, sollte sich herumgesprochen haben.

Klinsmanns Team? Der Bundestrainer macht einen guten Job, aber wie immer gibt es längst andere Trainer, die sich totlachen, wenn sie seine heiligen Worte nachäffen. Vertikal? Hihi: Früher nannte man das Steilpass. One Touch? Klar. Schön. Und gut, wenn man sich nicht verhaspelt.

Dem Gemaule (von Gruppe 2) über Argentiniens Spiel gegen Mexiko liegt ein Missverständnis zugrunde, dass auf dem Planeten nun Vertikalpasspflicht herrsche, weil Klinsmann und Löw das befohlen haben. Zudem ergab sich eine Erwartungshaltung an Argentinien, die sich aus dem Optimalfall speiste (dem Spiel gegen Serbien-Montenegro). Es gibt aber auch Leute (aus Gruppe 3), die bei Argentinien – Mexiko vor Glück gestöhnt haben.

Es gilt schon auch weiterhin: Solange man selbst den Ball hat, kann der Gegner kein Tor schießen. Argentiniens Ballbesitz-Strategie baut darauf auf, dass technisch herausragende Individualisten den Ball so lange zirkulieren lassen, bis der Gegner müde wird und einen Fehler macht, d. h., sich die gesuchte Lücke auftut, die sie dank individueller Klasse dann auch nutzen. Die Kunst besteht darin, den Ball schnell laufen zu lassen, ohne selbst viel Kraft zu brauchen. Der Treffer über 26 Stationen gegen S & M markiert den Spektakel-Höhepunkt dieser Philosophie. Den Spektakel-Nadir erreicht Argentinien, wenn das Ball-und-Gegner-laufen-Lassen bei eigener Führung nicht mehr dem Ziel dient, ein Tor zu schießen.

Klinsmanns Strategie geht zu Recht davon aus, dass die deutschen Spieler nicht gut und damit zirkulationssicher genug sind, um gegen einen starken, abwehrbereiten Gegner mit Bedacht die Lücke zu finden. Er braucht Extrafitness. Er braucht Tempo. Sein Tempo kann aber nicht durch Ballstafetten entstehen. Dafür: wenige Spielzüge. Gegen eine nicht sortierte Deckung. Alles muss zack, zack gehen.

Andererseits hat Michael Ballack bei Podolskis 1:0 gegen Schweden das Gegenteil getan. Er fand mit einem zunächst eher unscheinbaren Pässchen Klose, der wiederum – völlig überraschend – etwas so Singuläres schaffte, dass eine ganze sortierte Abwehr ausgehebelt war. Im Übrigen spielt Ballack nicht vertikal, wenn vorne keiner anspielbar ist, sondern quer wie eh und je. Auch Spaniens „Passen, passen, passen“ (Aragones) mischte One Touch mit mehreren Ballkontakten. Ausgerechnet die Niederländer wiederum ließen, als es galt, ihre Flügel hängen und spielten Flugbälle über ihr Mittelfeld hinweg, das offenbar für Passen nicht gut genug war.

Zugegeben: Für die populärhistorische Exegese ist Deutschland – Argentinien sicher ein wegweisendes Spiel. Aber in Wahrheit gibt es kein Entweder-oder. Im Moment ist unklar, was diese WM über den Fitnessfaktor hinaus entscheiden und damit definieren wird. Es könnte One Touch sein. Von Riquelme.