Die Jungs, das Dorf und die Schuld

AUS PRETZIEN ASTRID GEISLER
UND ROLF ZÖLLNER (FOTOS)

Am Morgen nach der Bürgerversammlung sieht Andreas Holtz verstört aus. Ein Zeichen wollte der Pfarrer setzen im Dorfgemeinschaftshaus von Pretzien. Seit einer Woche hatte er dafür gekämpft, seit er wusste, was sich zugetragen hatte mitten in dem 900-Einwohner-Dorf in Sachsen-Anhalt: Neonazis aus dem Ort hatten das „Tagebuch der Anne Frank“ und eine US-Flagge verbrannt – unter den Augen des PDS-Bürgermeisters und der Dorfbewohner, beim Sonnenwendfeuer auf der Festwiese gleich hinter dem Gemeindehaus.

Doch die Bürgerversammlung hat nicht gebracht, was sich der Pfarrer erhofft hatte. „Eine Farce“, sagt er jetzt. „Ich bin erschrocken. Dass die Menschen nicht begreifen, welche Gefahr weiter besteht für den ganzen Ort.“ Holtz, 44 Jahre, weiß seit einigen Stunden, dass auch der Pretziener Kirchenrat nicht geschlossen hinter ihm steht. Eine Erklärung, die er vorbereitet hatte, fand in dem Gemeindegremium keine Mehrheit. Das Papier liegt auf seinem Tisch im Pfarrbüro. Was soll er damit tun? Er streicht das Wort „wir“ durch, schreibt mit blauer Tinte „ich“ darüber. „Ich fühle mich mitschuldig“, steht jetzt da. „Ich habe nicht entschieden genug der Praxis unseres Bürgermeisters widersprochen, einer Vereinigung mit offensichtlich rechtsextremistischer Tendenz eine der wichtigsten Aufgaben für unseren Ort zu übertragen – nämlich die Kulturarbeit.“

Die Vereinigung, um die es geht, trägt den Namen „Heimat Bund Ostelbien e. V.“. Der Heimat Bund hatte Ende Juni zum Tanz ins Dorfgemeinschaftshaus Alter Krug geladen. Auf Handzetteln lockte er mit einem „kulturellen Programm und Sonnenfeuer“, Eintritt drei Euro. Glaubt man den Pretzienern, wusste niemand, welchen außergewöhnlichen Höhepunkt sich die Gastgeber für das Sommerspektakel ausgedacht hatten. Der „Heimat Bund“ war in Pretzien eine anerkannte Größe, spätestens seit er im vergangenen Herbst ein rauschendes Dorffest organisiert hatte.

Dabei hat der Verein eine Geschichte, über die man nur staunen kann. Ein bedeutender Teil davon ist das persönliche Werk des Pretziener PDS-Bürgermeisters. Nach Auskunft des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt hatte sich die Gruppierung Ende der 90er-Jahre zunächst als Skinhead-Kameradschaft formiert. Sie organisierte unter anderem einen Hess-Aufmarsch, ein Fußballturnier – und eine Sonnwendfeier. Sechs Jahre später galt die einst verfassungsfeindliche Vereinigung bei den meisten Pretzienern als Vorzeigetruppe.

Bürgermeister Friedrich Harwig sitzt am Gartentisch. 66 Jahre ist er alt, ein kleiner, drahtiger Mann mit grauem Schnauzer und auffallend blauen Augen. Sein Vater war Parteisekretär der SED, Harwig selbst ging schon mit 16 Jahren in die Partei. Seit 1994 steht er an der Spitze der Dorfgemeinschaft von Pretzien, Harwig ist eine Respektsperson im Ort. Unter seiner Führung ist Pretzien – entgegen dem ostdeutschen Trend – gewachsen, von knapp 600 Einwohnern auf fast 1.000. Dunkelrote Fahrradwege sind ins Straßenpflaster eingelassen, Rabatten mit blühenden Rosen säumen die Wege, über einigen Häusern klappern Störche, Pretzien ist eine beliebte Station am Elbe-Radweg bei Magdeburg. Ein „Vorzeigedorf“, sagen die Bewohner stolz.

Das Vorzeigedorf liegt keine zwanzig Kilometer entfernt von Pömmelte, wo vor einem halben Jahr ein Schulkind wegen seiner Hautfarbe von Dorfjugendlichen misshandelt wurde. Das Verbrechen an dem Zwölfjährigen erregte bundesweit Aufsehen, die Täter sind inzwischen verurteilt. Nun starrt die Nation auf Pretzien, und das Dorf ist in Aufruhr. Im Kiosk an der Dorfstraße raunt man sich die neusten Spekulationen zu über das Treiben „der Jungs“. Die Lokalpresse trägt täglich in den Ort, wer nun gerade den Bürgermeister anprangert – als Ignoranten oder Idioten. „Bestenfalls naiv“, nannte SPD-Innenminister Holger Hövelmann dessen Umgang mit den Rechtsextremen. „Blauäugigkeit“ bescheinigte ihm PDS-Fraktionschef Wulf Gallert. Die Genossen legten Harwig per Pressemitteilung den Parteiaustritt nahe. Vor drei Tagen ging er.

„Ich will nichts beschönigen“, sagt der Bürgermeister leise. Angegriffen wirkt er, kämpft mit den Tränen. Denn es waren beste Absichten, die ihn Ende der 90er-Jahre auf die Idee brachten, den Neonazis im Dorf die Hand zu reichen. „Die hatten uns aus dem ganzen Land die rechte Szene ins Dorf geholt. Richtig böse Jungs. Ich hatte fürchterliche Angst, dass hier jemand körperlich zu Schaden kommt.“ Der PDS-Politiker wollte die Jugendlichen wieder einbinden ins Dorfleben, das, glaubte er, könne „die Jungs“ bändigen. Die Neonazis ergriffen seine Hand. Sie boten an, die Dorfchronik weiterzuführen, präsentierten bald darauf ein Geschichtsquiz beim Dorffest, sie schleppten Sandsäcke bei der Elbeflut, halfen auch dem Pfarrer, als die Friedhofsmauer einzustürzen drohte. Selbst der prominenteste Pretziener, Klaus Jeziorsky, bis vor wenigen Monaten Sachsen-Anhalts CDU-Innenminister, stellte sich mit den engagierten Helfern zum Erinnerungsfoto auf.

„Die Jungs“ wuchsen mit dem Projekt, aus Jugendlichen wurden Erwachsene. Ende 2001 ließ sich der Heimat Bund Ostelbien ins Vereinsregister eintragen. Den Vorsitz übernahm Christian Seidel, ein früheres NPD-Mitglied, das dem Verfassungsschutz bestens bekannt war. Seidel hatte sich öffentlich vom Rechtsextremismus losgesagt – im Dorf glaubte man ihm. Er zog für den Heimat Bund in den Gemeinderat ein. Unlängst eröffnete der Heimat Bund unter seiner Regie sogar ein Infozentrum für Radtouristen am Dorfpark. Als seine Mitstreiter den Feuerzauber zelebrierten, war Seidel im Urlaub. Nun hängt neben dem Schaufenster eine Stellungnahme des Vereinsvorsitzenden, die man in ihrer Unbeholfenheit rührend finden kann: „Dieses war nicht in meiner Gesinnung und nicht in meinem Ermächtnis“, versichert er und beteuert: „Wenn es in meiner macht stehen dürfte“, würde er den Vorfall „rückgängig machen“.

Die Rolle des Heimat Bundes im Dorfleben ist so undurchsichtig wie das Verhältnis des Bürgermeisters zu „den Jungs“. Dass die Truppe auch mal in schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift „Wehrmacht Pretzien“ auftrat, hat den früheren NVA-Offizier Harwig nicht gestört: „Wehrmacht – das habe ich nicht als negativ betrachtet.“ Als am 24. Juni gegen 22 Uhr vor seinen Augen Buch und Flagge in Flammen aufgingen, schritt Harwig nicht ein. Er rief nicht die Polizei, erstattete keine Anzeige. Niemand der Zuschauer tat das am Abend des Geschehens. Die erste Anzeige erreichte die Sicherheitsbehörden mit drei Tagen Verspätung. Anonym. „Tja“, sagt Harwig. Sein Blick wandert über die Terrasse, er schnalzt leise mit der Zunge.

Selbst unter Experten ist umstritten, wie man das Pretziener Integrationsprojekt bewerten soll. Viele im Dorf haben davon profitiert: Die Leute waren froh, dass es ruhig wurde um „die Jungs“. Die übernahmen Arbeiten im Dorf, auf die wenige Lust hatten. Und ganz nebenbei wurden die Neonazis ihr Image als Störenfriede los. „Wenn ich Neonazis das Angebot mache, sich für die Kommune zu engagieren, dann nehmen die das natürlich an“, sagt Rechtsextremismus-Fachmann David Begrich vom Magdeburger Verein „Miteinander“. Schließlich sei es unter Neonazis eine angesagte Strategie, sich als hilfsbereite „Jungs“ auszugeben und so in Dörfern zu Einfluss zu kommen. Was aber seit der Bücherverbrennung in Pretzien läuft, macht ihn sprachlos. Begrich selbst hat auf der Bürgerversammlung gesprochen. „Eine solche Realitätsverweigerung habe ich noch nicht erlebt“, sagt er über diesen Abend. Statt sich ernsthaft mit dem Rechtsextremismus im Ort auseinander zu setzen, hätten viele Pretziener lieber Solidaritätsadressen an den Bürgermeister verkündet.

Der stellvertretende Abteilungsleiter des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt, Jürgen Schmökel, will die Zusammenarbeit der Pretziener mit den Neonazis nicht gänzlich verurteilen: „Es sieht doch so aus, als hätte das Resozialisierungsprogramm des Bürgermeisters durchaus Wirkung gezeigt.“ Schließlich habe sich die Szene im Ort über Jahre „relativ beruhigt“.

Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen drei Männer wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Im Dorf nennt man sie immer noch „die Jungs“ – sie sind 24, 27 und 28 Jahre alt.

Zur Bürgerversammlung erscheinen die Beschuldigten vollzählig. Sie müssen nichts fürchten. Niemand stellt „die Jungs“ bloß, viele Bürger preisen ihre Verdienste um den Ort. Bevor sich die Neonazis vor dem Dorf erklären, fliegt auf ihren Wunsch die Presse aus dem Saal. Es ist eine vorbereitete Erklärung, die einer von ihnen dann verliest. Sie distanzieren sich darin nicht von der Tat, sondern entschuldigen sich lediglich – beim Bürgermeister, beim Vereinsvorsitzenden Seidel und dem Dorf.

„Dafür gab es einen Riesenapplaus“, sagt Frithjof Meussling. Der CDU-Gemeinderat wirkt aufgewühlt am Morgen nach der Versammlung. „Was sie erreichen wollten, das haben sie erreicht.“ Die Rechtsextremen bekamen den Beifall des Dorfes, obwohl sie weiter zu der Schändung stehen. Meussling hat einen Steinmetzbetrieb. „Große Sorge 1b“ lautet die Firmenanschrift. Was für eine Adresse in diesen Tagen!

Meussling sagt, er habe immer wieder „ein schlechtes Gefühl“ gehabt. Nun spuken plötzlich Fragen in seinem Kopf herum. Je länger er grübelt, desto mehr werden es. Wie konnte man Rechtsextremen das Dorfarchiv anvertrauen? Gut möglich, dass die Neonazis die letzten Zeugnisse über die Deportation von Juden aus dem Ort im Papierkorb entsorgt haben. War es vielleicht doch kein Versehen, dass die Kirche nicht auftauchte in der Chronik, die der Heimat Bund zum 850. Dorfjubiläum herausgegeben hat? Und was hat die Clique eigentlich auf ihrem Grundstück außerhalb des Orts getrieben? Hat sie den Jugendlichen wirklich nur Spanferkel serviert?

Er hat keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll. Die „Jungs“ sitzen auch in der Freiwilligen Feuerwehr, im Fußball- und im Gesangverein. „Wichtig wäre, was in den Köpfen zu ändern“, sagt er. „Wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir versagt.“ Die Frage ist: Wer soll das leisten? Und wie? Der Gemeinderat hat vorgestern dem Bürgermeister das Vertrauen ausgesprochen.

Pfarrer Holtz findet für Harwigs Engagement kaum freundliche Worte. Er wirft ihm vor, in Pretzien „nach dem Führerprinzip der SED-Diktatur“ zu walten. „Auf der Bürgerversammlung haben wir uns alle selbst beruhigt.“ Es dürften nicht viele sein, die seine Sicht teilen. Am Ende der Versammlung hatte Holtz dazu aufgerufen, draußen auf der Brandnarbe in der Festwiese ein Teelicht zu entzünden. Als der Pfarrer gegen elf sauber machte, musste er nur wenige Kerzen in seine Plastiktüte packen.