die taz vor zehn jahren über den kleinen unterschied zwischen schwulen und lesben
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Auffallend ist, wer sichtbar wird in diesem zweistimmigen Chorgesang aus sich tolerant gerierender heterosexueller Mehrheit und dankbarer homosexueller Minderheit: Es sind – trotz (oder wegen?) der neuerdings gebräuchlichen Formulierung „lesbischschwul“ – fast ausnahmslos schwule Männer, von denen zu sehen und zu reden ist.

Solange Schwule nicht anerkennen, daß Unterdrückung nicht nur durch offene Verbotsakte funktioniert, sondern auch durch die Produktion eines Gebiets der Undenkbarkeit und der Unaussprechlichkeit, weshalb Lesbianismus zum Teil nicht einmal in das Denkbare, Vorstellbare vorgestoßen ist, beteiligen sie sich mit der Einschreibung von Lesben in schwule Diskurse und der aneignenden Rede von „lesbischschwuler Gemeinsamkeit“ an der Produktion der Unsichtbarkeit von Lesben. „Ausdrücklich verboten zu werden“, kommentiert die feministische Theoretikerin Judith Butler, „bedeutet, einen Schauplatz des Diskurses zu bewohnen, von dem aus so etwas wie ein umgekehrter Diskurs artikuliert werden kann; implizit verboten zu werden bedeutet, nicht einmal als Verbotsobjekt in Frage zu kommen.“ Das macht die Formulierung eines Gegendiskurses um so komplizierter. Daher, so Butler, „ist es wichtig, die verschiedenen Wege nachzuzeichnen, auf denen die Undenkbarkeit der Homosexualität immer wieder konstituiert wird“. Als ständige Unwahrheit vorzukommen, ist eine Sache – etwas anderes ist es, aus dem Diskurs ausgelöscht zu werden.

Von daher werden politische Bündnisse zwischen Lesben und Schwulen, aber auch mit und zwischen anderen Minderheiten, nur dann eine Chance haben, wenn Unterschiede nicht zugekleistert werden, ohne Differenzen zu fetischisieren. Statt vorschnell marktförmige, „repressive Toleranz“ (Marcuse) mit gesellschaftlicher Veränderung zu verwechseln, sollten wir Differenzen nicht verdecken, sondern untersuchen.

Sabine Hark in der taz vom 9. Juli 1996