„Europa erfasst Afrikas Probleme nicht“

Von der europäisch-afrikanischen Migrationskonferenz ist kein Durchbruch zu erwarten, meint Migrationsexperte Mehdi Lahlou in Marokko: „Es wird viel von Entwicklung geredet, aber Mittel werden auf dem Gebiet der Sicherheit bereitgestellt“

taz: Herr Lahlou, im Vorfeld der afrikanisch-europäischen Ministerkonferenz über Immigration in Rabat war viel von Hilfe zur Entwicklung die Rede. Denkt Europa um?

Mehdi Lahlou: Europa fängt an, die Probleme zu sehen, ohne sie allerdings im gesamten Umfang zu erfassen. In Afrika haben wir ein großes wirtschaftliches und soziales Ungleichgewicht. Und wir haben auch einen Mangel an Bürgerrechten und Demokratie. Aber Europa redet darüber, als wäre Afrika ganz alleine daran schuld. Die EU will vor allem in den Transitländern der Immigranten eingreifen und nicht in ihren Herkunftsländern. Auch wenn von Entwicklung die Rede ist: Europa setzt auf die Wahrung von Sicherheitsinteressen.

Also ein neuer Diskurs für eine alte Politik?

Es wird viel von Entwicklung geredet, aber das ist alles nur Theorie. Auf dem Gebiet der Sicherheit werden Mittel bereitgestellt, werden die entsprechenden Institutionen ins Leben gerufen. In der Entwicklungspolitik hingegen gibt es weder Geldmittel im nötigen Umfang noch die notwendigen Strukturen.

Ist eine funktionierende Entwicklungspolitik überhaupt möglich angesichts des Mangels an Demokratie in weiten Teilen Afrikas?

Eine gezielte Entwicklungspolitik muss natürlich mit der Unterstützung und Förderung demokratischer Institutionen einhergehen. In machen Gegenden Afrikas müsste erst für Sicherheit und Frieden gesorgt werden.

Ist die Konferenz in Rabat nicht doch ein Schritt nach vorn? Europa redet jetzt von Entwicklung statt davon, Immigranten in Lager zu sperren, wie es Silvio Berlusconi oder Otto Schily noch vor kurzem vertreten haben.

Die Lagerpolitik geht weiter, auch wenn darüber nicht mehr so viel geredet wird. In Libyen und Mauretanien wurden Lager aufgebaut. Doch die Migranten kommen immer noch. Deshalb wollen die Europäer jetzt verhindern, dass die Immigranten überhaupt losfahren.

Ist es möglich, mit militärischen Mitteln die Migrationsrouten zu schließen?

Natürlich nicht. Die Immigranten weichen aus und erschließen neue Routen. Alleine auf dem Weg über die Westküste Afrikas versuchen jährlich 20.000 bis 30.000 Menschen ihr Glück. Der Druck wird immer größer. Ganze Regionen in Afrika verarmen, weil die Fischvorkommen zu Ende gehen oder weil es kein Wasser mehr gibt.

Was müsste man tun, um den Menschen vor Ort eine Perspektive zu bieten?

Die USA müssten aufhören, die eigene Baumwolle zu subventionieren, damit die Baumwollindustrie in Afrika eine Zukunft hat. Wir bräuchten einen Kehrtwende in der europäischen Landwirtschaftspolitik, damit afrikanische Produkte Zugang zum europäischen Markt haben. Die Fischfangflotten müssten aufhören, den Atlantik leer zu fischen. Denn wenn die Baumwollindustrie, die Landwirtschaft und der Fischfang in Afrika keine Perspektive haben, dann werden noch viel mehr Menschen als heute ihr Glück in der Emigration suchen.

INTERVIEW: REINER WANDLER