Prekär und frei – und Spaß dabei

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 5): Wie kann ein Arbeitsleben „prekär“ sein, wenn der Betroffene dabei glücklich ist? Viele Journalisten, Anwälte und andere Freiberufler haben gelernt, mit der Unsicherheit zu leben – oder sie gar zu lieben

VON MATTHIAS LOHRE

Auf den ersten Blick tut Alva Gehrmann alles, was ihre Journalistenkollegen in Festanstellungen auch tun. Die 33-Jährige geht morgens ins selbst gegründete Büro, macht sich in der kleinen Küche einen Kaffee und plaudert mit den Zimmernachbarn. Sie telefoniert, recherchiert im Internet, feilt an ihren Texten und freut sich, wenn ihre neueste Reportage Lob erntet. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, gehörte die Freiberuflerin aus Prenzlauer Berg nicht zur sozialen Gruppe mit dem plakativen Namen „Prekarisierte“. Denn die Journalistin fühlt sich wohl – trotz alledem.

Wie viele Freiberufler in der Hauptstadt weiß auch Alva Gehrmann nicht, wie viel sie im kommenden Monat verdienen wird. Ähnlich vielen Anwälten oder Architekten hat auch sie aufgehört, auf feste Karrierepläne zu vertrauen: Studium, Praktika, freie Mitarbeit, Auslandsaufenthalte, Festanstellung – dieser Berufsfahrplan funktioniert seit Jahren nicht mehr. Viele von ihnen hielten die Zeit in Bürogemeinschaften in Hinterhöfen und Industriebau-Etagen anfangs nur für eine Warteschleife. Doch manche wollen inzwischen gar keinen festen Job mehr. Sie ertragen die Unsicherheit – die Prekarität – nicht, sie haben sie schätzen gelernt.

„Natürlich ist es angenehm, ein sicheres Gehalt auf dem Konto zu haben“, sagt Gehrmann. „Andererseits muss ich nicht Machtspiele in der Redaktion und endlose Konferenzen erdulden. Und die Themen, über die ich heute berichte, kann ich mir selbst aussuchen.“ Eine Vollzeitanstellung hätte ihr nie erlaubt, einen ihrer Träume zu verwirklichen: ein Buch zu schreiben.

Solche Beispiele bringen Erinnerungen an den flüchtigen IT-Boom um die Jahrtausendwende zurück. Als 20-Jährige glaubten, den Widerspruch von Arbeit und Privatleben, Produktionsmitteln und Arbeitskraft spielerisch auflösen zu können. Wer braucht schon soziale Absicherungen, wenn das Geld scheinbar unaufhörlich fließt? Es kam bekanntlich anders.

Heute stellen sich viele Menschen aus ehemaligen Goldgräberbranchen ähnliche Fragen, nur mit von der Wirtschaftsflaute umgedrehten Vorzeichen: Kann jemand, dessen soziale Lage unsicher ist, zufrieden sein? Wenn man nicht weiß, ob das karge Honorar pünktlich zum Monatsbeginn das Konto erreicht? Wenn man nicht rigoros trennt zwischen Arbeit und Privatleben? Wenn beispielsweise vom Islandurlaub einige schöne Geschichten für den Reiseteil einer Zeitung abfallen – also Geld einbringen?

Glück und Prekarisierung, das kann zusammenpassen. Für viele Menschen ist die Trennlinie zwischen Zufriedenheit und Zukunftsangst hauchdünn. Und für manche ist es schlicht eine Frage des Blickwinkels. „In meinem Bekanntenkreis gibt es viele, die als Anwälte oder Grafiker arbeiten, aber kaum über die Runden kommen – und darunter leiden“, erzählt Gehrmann. „Dadurch weiß ich noch mehr zu schätzen, was ich habe.“

Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass der Begriff „Prekarisierung“ mindestens so viele Fragen aufwirft, wie er beantwortet. Ist alles nur eine Frage der Einstellung der Betroffenen zu ihrer Lage? Ist nur unsicher, wer sich unsicher fühlt? Ist Prekarität eine Frage des Geldes? Ist also der gut verdienende freiberufliche Journalist vor allem ein Journalist, der schlecht verdienende aber eine „prekäre Existenz“? Die Wortschöpfung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu ist selbst prekär.

Kritiker erkennen darin vor allem die Befindlichkeit der deutschen Mittelschicht. Also die Angst der Millionen abhängig Beschäftigten, die in Jahrzehnten das Gefühl entwickelten, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand seien ein Naturgesetz. Selbst in Flautezeiten beruhigte sie die Gewissheit, dass der Sozialstaat den erreichten sozialen Stand konserviert. Beispielsweise indem er die Höhe des Arbeitslosengeldes vom zuletzt erzielten Arbeitslohn abhängig machte. Das ist mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II vorbei. An diesen Wandel haben sich jene am schnellsten angepasst, die nie eine Chance hatten, sich an den Wohlstand zu gewöhnen.

Je jünger, desto angstfreier also? Selbst hier fällt eine Antwort schwer. In Statistiken lassen sich Gemütshaltungen kaum festhalten. Wer weiß schon, wie sich die Menschen fühlen, die in Berlin im vergangenen Jahr die 44.000 Gewerbeanzeigen einreichten? Zeugt es von der Zuversicht der Hauptstädter, wenn dieser Zahl weniger als 33.000 Abmeldungen entgegenstehen?

Die Gretchenfrage an die „glücklichen Prekarisierten“ ist aber jene: Sind sie auch auf Dauer zufrieden mit ihrer unsicheren Lage? Oder steckt dahinter die alte Gewissheit, dass die große Mehrheit der gut Ausgebildeten und der Akademiker früher oder später zu Wohlstand gelangt? Was, wenn nicht? Das Gerede vom vermeintlich herrschenden Postmaterialismus ist sehr leise geworden, seit sich auch Akademiker fragen müssen: Werde ich meinem Kind das Studium finanzieren können?

Berlin hat in diesem gesellschaftlichen Umbruch womöglich besonders gute Karten. Die klassischen Industriebetriebe der einstigen Wirtschaftsmetropole haben die Wende 1989/90 nicht überlebt. Drastischer als im Ruhrgebiet haben die Menschen erfahren, dass es ein Zurück in bekannte Arbeitsverhältnisse nicht gibt. Seit 1991 haben 1,6 Millionen Bewohner Berlin verlassen, ebenso viele sind dauerhaft in die Stadt geströmt. In dieser Zeit hat sich die Mentalität der Berliner tiefgreifend verändert. Die Erinnerung an die – geschichtlich betrachtet – kurze Ära, als Vollzeitarbeitsplätze eine ganze Familie ernährten, schwindet.

Vielen Berlinern kann diese Stimmung als Ansporn dienen, berufliches Fortkommen nicht nur als Abfolge von Beförderungen zu begreifen. Andere werden ihre materielle Unsicherheit auch künftig als Bedrohung verstehen. Nur eines scheint bei der Debatte über Glück und Unglück der Prekarisierung gesichert: Sie wird bleiben.