„Der Staat bekommt Gesellschaft“

Im Zuge der Globalisierung verschwindet der Nationalstaat, sagen viele. Doch das stimmt nicht. Der Staat delegiert Aufgaben und erledigt manches anders als bisher. Das ist ein Wandel – kein Ende, so Stephan Leibfried

taz: Herr Leibfried, in welcher Verfassung ist der Nationalstaat?

Stephan Leibfried: In einer komplizierten Übergangsphase: Den Liberalen, die ihn 1848 der deutschen Einheit wegen herbeisehnten, ist er heute viel zu groß, den Linken, für die er mangels Bedarf absterben sollte, kann er heute gar nicht groß genug sein. Aber er zerfällt nicht. Es gibt kein Ende der Politik. Weder transnationale Großkonzerne noch demokratisch wenig legitimierte internationale Organisationen übernehmen die Macht. Der Staat bekommt „Gesellschaft“, teilt seine Aufgaben mit privaten oder internationalen Institutionen, gibt Organisations-, aber keine Letztentscheidungsverantwortung ab.

Sie leiten in Bremen einen Sonderforschungsbereich über „Transformationen von Staatlichkeit“. Welche Erkenntnisse haben Sie über die Veränderung des Staates gewonnen?

Wir sehen zwei große, nachhaltige Tendenzen: Privatisierung und Internationalisierung. Allerdings finden wir in den vier Dimensionen moderner Staatlichkeit – Ressourcen, Rechtsstaat, Demokratie, Wohlfahrt – keine einheitliche Wandlungsrichtung. Wir können weder die These des Absterbens des Staates von Karl Marx noch ein einfaches „Weiter so“ bestätigen.

International gibt der Nationalstaat doch seine Souveränität ab.

Nein. Der Nationalstaat wird zwar immer mehr in ein nationales wie internationales Netz von Rechtsstrukturen eingebunden. Das relativiert seine Autonomie. Aber die Durchsetzung von Recht – etwa von Gerichtsurteilen –, die Finanzierung oder die demokratische Legitimation dieser Politiken hängt nach wie vor am Nationalstaat. Von Absterben kann keine Rede sein, eher von Einbinden.

Sind überstaatliche Gebilde wie die Europäische Union nicht ein bisschen sehr flüssig und unverbindlich? Reicht so etwas wie die europäische Idee? Oder muss eine „Agglomeration“ wie die EU ihren Bürgern nicht auch mehr „staatliche“ Sicherheiten garantieren, gegen äußere Bedrohung oder soziale Risiken?

Sie muss es nur dann, wenn sie mit dem Nationalstaat verglichen wird. Dann erscheint die Europäische Union als etwas Krisenhaftes, Instabiles, Unvollkommenes. Warum aber soll die EU ein vollständiger Staat werden? Im Vergleich zur UNO ist sie etwas höchst Stabiles, Handlungs- und Durchsetzungsfähiges. Unser nationalstaatsgeprägter Blick auf die EU ist verzerrend.

Zurück zum Nationalstaat. Überall – und vor allem in Deutschland – wird der fortschreitende Abriss des Sozialstaats beklagt. Fällt er?

Auch hier ist es nicht so simpel, wie es manche gern hätten. Bei den Gesamtausgaben des Sozialstaats sehen wir nirgends Abriss. Dennoch findet sich teilweise ein stark zunehmender Bedarf an sozialer Sicherheit. Dafür sind die anhaltende Arbeitslosigkeit und der demografische Wandel verantwortlich. Mitunter werden Sozialausgaben auch falsch oder unsozial eingesetzt, etwa wenn die Pharmaindustrie indirekt subventioniert wird. Es sieht zudem so aus, als würden wir nur schleppend auf die gesellschaftlichen Ausgangs- und Risikolagen reagieren.

Die Staatsquote soll dauernd gedrückt werden – aber das klappt nicht recht. Begreifen Sie das als etatistische Renaissance?

Einzelne Indikatoren führen meist in die Irre. Die Staatsquote ist kein zuverlässiger Indikator für Staatswandel. Natürlich kommt es zur Privatisierung etwa der Daseinvorsorge: Strom, Telekommunikation, Post usf. Nur damit geht keine wesentliche Entstaatlichung einher, weil der Staat nur das Erbringen der Dienste privatisiert, den Markt schafft und mit Hilfe von Regulierungsagenturen kontrolliert. Markt ohne Staat, Kontrolle, Rechtssicherheit und Eigentumsgarantie gibt es nicht. Die Bundesagentur für Arbeit ist ein eher milder Fall von Privatisierung – das ist vor allem eine Nationalisierung von Sozialhilfe.

Der bismarcksche Sozialstaat der Geldtranfers, der auf die Absicherung der Lebensrisiken zielt, habe abgedankt, heißt es vielerorts. Wir bräuchten den neuen, den Chancen-Sozialstaat. Was bedeutet diese neue Philosophie?

Was soll der Sozialstaat? Warten, bis das Kind in den Brunnen fällt, um es mit viel Aufwand zu reanimieren? Oder das Kind so ausbilden und mit Chancen versehen, dass es nicht in den Brunnen fällt? Im Moment steckt der deutsche Sozialstaat Milliarden in die oft unmögliche Reparatur fehlentwickelter Lebensläufe statt in die gute Ausbildung der Kinder schon ab der Krippe.

Von der Bildungsentwicklung in Deutschland kann man sagen, dass der Staat nachhaltige Reformen eher verhindert als vorangetrieben hat. Deswegen hat unser Bildungssystem erhebliche Modernisierungsrückstände. Sehen Sie das auch so?

Es wäre zu pauschal, das allein dem Staat anzulasten. Staat und Zivilgesellschaft sind in demokratischen Ländern verfassungsmäßig in ein gewolltes Netz gegenseitiger Kontrolle eingebunden, um Freiheit und Demokratie zu sichern. Nun klagt man zu Recht über Reformblockaden in Deutschland. Aber hätten wir mit einem politischen System ohne Bundesrat schon eine bessere Sozial- oder Bildungspolitik? Liegen die Ursachen nicht auch in unserem Industriesystem und den Klassen- und Familientraditionen?

Aber ist ein Wandel vom nach- zum vorsorgenden Staat überhaupt feststellbar? Macht der Staat die Bildungssysteme nun fit – oder ist er mit der Reparatur der Sozialsysteme so beschäftigt, dass er zu nichts anderem mehr kommt?

Einige Länder, vor allem in Skandinavien, schaffen beides, andere tun sich schwer damit. Deutschland repariert im Moment immer noch zu viel, pumpt mehr Geld ins System, ohne es selbst wesentlich zu verbessern.

Und wie sieht der Staat in zehn Jahren aus?

Nach außen nicht viel anders als heute. Die großen Trends werden sich fortsetzen: Verrechtlichung, internationale Kooperation und Einbindung sowie Privatisierung und gesellschaftliche Eigensteuerung. Mit anderen Worten, der Staat wird immer mehr Teil eines komplexen, vielschichtigen Netzes von privaten und internationalen Akteuren, die gegenseitig voneinander abhängig sind, so dass die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zunimmt. Die Herausforderung besteht darin, dieses Netz auch demokratisch zu gestalten.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER