Bücher brennen – Polizisten pennen

Die Polizei legte den Fall Pretzien zunächst als „Ruhestörung“ zu den Akten. Angeblich, weil kein Beamter das „Tagebuch der Anne Frank“ kannte. Es ist nicht die einzige Merkwürdigkeit, die das Innenministerium nach der Bücherverbrennung untersucht

VON ASTRID GEISLER

Was macht die Polizei, wenn sie alarmiert wird, weil Rechtsextreme bei einer Sonnenwendfeier öffentlich das „Tagebuch der Anne Frank“ verbrennen? Sie fährt zum Tatort, findet keine Papierfetzen mehr in der Asche des inzwischen gelöschten Feuers – und hakt den Fall als „Ruhestörung“ ab. So zumindest geschah es in Pretzien, das räumte das Magdeburger Polizeipräsidium rund drei Wochen nach dem skandalösen Sommerfest in dem Dorf an der Elbe ein.

Die Begründung des Polizeipräsidiums für den „Einsatzfehler“: Die Beamten hätten das „Tagebuch der Anne Frank“ nicht einzuordnen gewusst. Einer von zwei zum Tatort gerufenen Polizisten habe das Buch gar nicht gekannt, erläuterte Polizeipräsidentin Monika Liebau-Foß. Der andere habe nur vage Erinnerungen an den Inhalt gehabt. Auch ein dritter Kollege in Magdeburg, an den der Fall weitergeleitet worden sei, habe die Brisanz nicht erkannt.

Drei Polizisten befassen sich mit der Schändung eines weltweit bekannten Symbols für den Völkermord an den Juden – und keiner kapiert, dass es um mehr geht als um eine nächtliche „Ruhestörung“?

Der Fall Pretzien, er ist längst nicht nur ein trauriges Beispiel für die missglückte „Integration“ von Neonazis ins Alltagsleben eines kleinen Dorfes in Sachsen-Anhalt. Er lässt auch ahnen, wie der ganz alltägliche Einsatz von Polizei und Verfassungsschutz gegen das Treiben der Neonazis aussieht. Selbst Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) scheint wenige Monate nach seiner Amtseinführung langsam zu erfassen, wie es ein paar Besoldungsstufen tiefer im Reich seiner Sicherheitskräfte zugeht. Er ordnete eine interne Untersuchung des Falls an. Zu klären gibt es genug.

Erst drei Tage nach dem Pretziener Dorffest – nach einer neuen Strafanzeige – nahm die Polizei Ermittlungen wegen Volksverhetzung auf. Weitere zehn Tage verflossen, bis die Wohnungen der Verdächtigen durchsucht wurden. Genug Zeit, das eine oder andere Andenken ans Dritte Reich wegzuschaffen.

Ein Augenzeugenbericht deutet zudem darauf hin, dass die Pretziener „Einsatzfehler“ so außergewöhnlich nicht waren: Vier Wochen vor der Bücherverbrennung soll im benachbarten Plötzky eine Horde von „Heimat Bund“-Mitgliedern Parolen wie „Sieg Heil!“ oder „Juden raus!“ gebrüllt haben. Auch damals wurde die Polizei gerufen – im Einsatzbericht hielt sie jedoch neben einer Sachbeschädigung nur eine Festnahme wegen des Zeigens eines Hitlergrußes fest. „Juden raus“-Rufe? Fehlanzeige.

Nebulös ist bisher auch die Rolle von vier hauptamtlichen Mitarbeitern des Verfassungsschutzes, die – genau wie Ex-Landesinnenminister Klaus Jeziorsky (CDU) – in Pretzien leben. Unter ihrem kundigen Blick fiel die Clique mit den „Wehrmacht Pretzien“-Pullis aus dem Verfassungsschutzbericht heraus. Drei der Geheimdienstler bekundeten laut Innenministerium inzwischen schriftlich, sie hätten nicht am Pretziener Vereinsleben teilgenommen. Das soll offenbar rechtfertigen, wieso niemand den Kollegen im Amt erzählte, welchen Einfluss Neonazis in Pretzien erlangt hatten.

Wann die interne Untersuchung des Falls abgeschlossen sein wird, dazu wagt das Ministerium keine Prognose. Hövelmann versprach stattdessen erst mal, die Polizei künftig „noch weiter“ für das Thema Rechtsextremismus zu sensibilisieren.

Gestern meldete sich auch Pretziens Pfarrer erneut zu Wort. Für ihn, sagte Andreas Holtz, zeuge der Umgang von Politik und Sicherheitsbehörden mit der Buchverbrennung von einer „Unkultur des Wegguckens und der Beschwichtigung“.