Nach Süden, in den Krieg

AUS DEM SÜDLIBANONKARIM EL-GAWHARY

Endstation heißt es schon nach einer Viertelstunde. Die Fahrt Richtung Südlibanon kann zunächst nicht fortgesetzt werden. Hier, auf der Küstenautobahn südlich von Beirut, haben israelische Bomben den Asphalt der dreispurigen Trasse zerfetzt. Das grüne Autobahnschild, das fünfzig Meter entfernt standhaft anzeigt, hier gehe es nach Sidon, ist nur noch theoretischer Natur. So wird eine Fahrt in den umkämpften Süden des Landes, die zu Friedenszeiten eine Stunde dauern würde, zu einer Odyssee von mehr als vier Stunden.

Die Reise geht über die kurvigen Straßen des drusischen Schuff-Gebirges, durch Täler und über Berge, langsam Richtung Süden. Die Dorfstraßen sind oft zu eng, um zwei Fahrzeuge gleichzeitig passieren zu lassen. Oft wird angehalten, um zunächst die Autos mit den Flüchtlingen aus dem Süden vorbeizulassen. Das typische Fluchtfahrzeug ist ein rostiger, dreißig Jahre alter Mercedes oder BMW, darin drei Generationen einer Familie. Vater fährt, Mutter sitzt mit zwei Kindern auf dem Schoß auf dem Vordersitz, Oma und Opa haben sich mit dem Rest des Nachwuchses auf die Rückbank gequetscht. Wegen des vielen Gepäcks liegt das Auto vor allem hinten gefährlich niedrig auf der Straße. Oft klafft der Kofferraumdeckel und wird nur von einer Schnur gehalten. Taschen, manchmal auch eine Matratze, ragen heraus. An die Autoantenne ist ein weißes Taschentuch gebunden, zur Sicherheit hält oft auch noch ein Kind ein weißes Bettlaken aus dem Rückfenster. Sie alle haben vor der militärischen Übermacht Israels kapituliert und versuchen nun, lebend in den sichereren Norden zu kommen.

Durchaus keine Selbstverständlichkeit. „Tag der Autos“ haben die libanesischen Ärzte im Krankenhaus der südlich gelegenen Stadt Tyros diesen Tag getauft. Denn immer wieder hat die israelische Luftwaffe Autos beschossen, mehr als 40 Menschen sind in ihren Fluchtfahrzeugen gestorben. Bei der Berichterstattung über den Treck ist auch die libanesische Journalistin Lajal Nadschib umgekommen, als eine israelische Rakete in der Nähe ihres Wagens einschlug.

Auf der Bergkuppe kurz hinter der libanesischen Kleinstadt Dschesinne ist die Situation dann völlig verändert: Auf der Straße fährt kaum mehr ein Fahrzeug. Hier weisen selbst kleine Straßen Bombenkrater auf, mehrmals müssen wir umdrehen und die Stellen umfahren. Unter einer Baumgruppe taucht plötzlich ein Konvoi auf: drei Busse und ein halbes Dutzend Pkws. Darin sitzen deutsche und österreichische Flüchtlinge, die mit Hilfe der österreichischen Botschaft in Beirut in den Dörfern des Südens eingesammelt worden sind. „Seit zehn Tagen ist unsere Botschaft in Kontakt mit uns. Ich bin froh, dass sie es jetzt geschafft haben, uns hier herauszuholen“, sagt Rola Asi, eine Österreicherin libanesischer Herkunft. Dann bricht sie in Tränen aus: „Meine Eltern sind im Dorf zurückgeblieben. Ich hoffe, sie werden das überleben“, sagt die erschöpfte Frau. Seit zwölf Tagen konnten weder sie noch ihre Kinder schlafen, „wegen der ständigen Explosionen“.

Ahamd Bardschabi, ein Berufsschüler aus Berlin-Kreuzberg, wollte eigentlich nur mal einen Tapetenwechsel in seinen Schulferien. Genau am Tag des Kriegsbeginns war er im Südlibanon angekommen, um seine Familie zu besuchen. „Es war die Hölle. Vor allem nachts ging immer die Post ab“, sagt er. „Jeden Tag haben wir im Keller übernachtet, dann hörten wir die Flugzeuge, und dann die Explosionen.“ Er ist heilfroh, raus aus dem Kampfgebiet zu sein. Er hofft, so schnell wie möglich mit Hilfe der deutschen Botschaft nach Damaskus und von dort wieder ins sichere Berlin reisen zu können.

Die Reise geht weiter über die nächste Hügelkette. Die Dörfer hier sind vollkommen ausgestorben. Es herrscht eine unheimliche Stille, die nur vom Klang der immer wiederkehrenden Explosionen unterbrochen wird – manchmal weit weg, manchmal bedenklich nahe. Es ist der Soundtrack dieses Krieges.

Im ersten Dorf, Habusch, wurde die Brücke über den Bach bombardiert. An der Hauptkreuzung sind alle Gebäude von der Druckwelle zerstört, die benachbarte Schule hat keine Fenster mehr. Die wohl einst schöne Palmenallee, Zierde des Dorfes, säumen nur noch verkohlte Baumstümpfe. Schnell werden die politischen Loyalitäten dieses Dorfes deutlich. Mitten auf der Kreuzung steht ein verbeultes Schild mit dem Bild von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. „Seine Mission ist es, den Widerstand aufrechtzuerhalten“, heißt es darauf. Der Rest ist weggebombt.

Nur noch sehr wenige Menschen sind geblieben. Ein Mann versucht seinen verwüsteten Laden aufzuräumen. Zwei andere, offensichtlich Techniker, sind den Strommast hinaufgeklettert und versuchen die heruntergefallene Leitung zu reparieren. Ein Auto bremst. Der Fahrer kommt aus der benachbarten Kleinstadt Nabatijeh. „Noch am Morgen war es bei uns ganz ruhig“, erzählt er. Als er dann gerade sein Auto betanken wollte, kamen die Flugzeuge – mit ihnen die Bomben. „Es gab nur Zivilisten an dieser Stelle, keine bewaffneten Hisbollah-Leute“, versichert er. „Allein da wo ich stand, gab es vier Verletzte. Wann übernimmt die internationale Gemeinschaft hier endlich Verantwortung und stoppt diesen Wahnsinn?“, fragt er ärgerlich. Dann fährt er davon, in sichereres Gebiet.

Eine paar Hügelketten weiter taucht schließlich Nabatijeh auf. Ein israelischer Kampfjet fliegt über die Stadt, aus der Ferne sind immer und immer wieder Explosionen zu hören. Die Stadt ist fast ausgestorben. Der Markt im Stadtzentrum ist zerstört, vom „Moonlight Cafe“ ist ebenso wenig übrig wie vom kleinen Laden des Obsthändlers nebenan. Zwischen den Trümmern leuchten ein paar aufgesprungene Melonen. Das Handygeschäft daneben ist ausgebrannt, von dem dreistöckigen Haus dahinter steht nur noch das Skelett. Vom Gebäude daneben ist die Hälfte weggesprengt – man sieht, wie seine Bewohner gelebt haben. Neben der rosa gefliesten Badezimmerwand steht unversehrt die Toilettenschüssel. Bizarr ragt sie nun über die Klippe, die einmal eine Wohnung war.

Im Krankenhaus von Nabatijeh liegen die Opfer der Bombardements. Zivilisten, keine Hisbollah-Milizionäre, wie Israel immer sagt. „Die meisten Schwerverletzten konnten inzwischen nach Beirut transportiert werden“, erzählt der behandelnde Arzt und führt uns zu Mariam, die mit verbundenen Beinen auf ihrem Bett liegt. Die 80-Jährige ist zu schwach für den Transport nach Beirut. „Ich habe geschlafen“, erinnert sie sich an den Angriff. „Ich bin durch eine Explosion aufgewacht – da ist auch schon das ganze Zimmer auf mich eingestürzt.“ Ihre Schwester hat sie aus den Trümmern ausgegraben und ins Krankenhaus gebracht.

Ein Zimmer weiter liegt Ali Rida mit einem verbundenen Oberschenkel. Der Arzt lässt den Granatsplitter von der Größe einer halben Untertasse bringen, der aus dem Bein des Neunjährigen operiert wurde. „Ich habe mit meinen Cousins zu Hause Domino gespielt, als es geknallt hat und plötzlich etwas auf uns gefallen ist“, erzählt Ali. Dann habe er dieses Brennen im Bein gespürt. „Wir waren kurz davor, sein Bein zu amputieren, aber Ali hat Glück im Unglück gehabt“, erklärt der Arzt.

Andere Kinder nicht, fügt er hinzu: „Wir hatten ein Kind, das beide Beine verloren hat. Es ist heute Morgen nach Beirut gebracht worden.“ Dann stockt er, sieht seinen Assistenten und die Krankenschwester an. „Keiner von uns hat es übers Herz gebracht, dem Kind zu erklären, dass es bei dem Bombardement seine gesamte Familie verloren hat.“